"Heimlicher Leser" ist nicht das Gegenteil von "unheimlicher Leser". Wer ist ein heimlicher Leser? Wer Verbotenes, staatspolitisch Unerwünschtes, öffentlich nicht Zugängliches (etwa aus Omas alten Heftchenbeständen), oder aber wer zu unerlaubter Zeit (etwa nachts im Bett) liest? Was ist in der DDR hiervon illegal, was subversiv gewesen, und was waren die Folgen? Lesen und lesen lassen in der DDR war über viele Jahre das Thema von Siegfried Lokatis und Simone Barck am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Mit wechselnden Partnern publizierten sie zu Literaturproduktion und -rezeption, Verlagsgeschichte und Zensurpraktiken. Nach Barcks Tod erschien 2008 der letzte gemeinsame Band. Das vorzustellende Buch geht auf eine Tagungsidee der beiden in einem DFG-Projekt zurück. Das wurde schließlich realisiert unter Einbindung von Studenten einer "Schreibwerkstatt" an der Leipziger Universität, wo Lokatis seit 2006 eine Professur für Buchwissenschaft hat. Lokatis' neue Herausgeber-Partnerin ist die Lektorin und Literaturwissenschaftlerin Ingrid Sonntag. 52 Schriftsteller, Verleger und Bibliothekare, Politik- und Literaturhistoriker, Germanisten und Romanisten, Philosophen, Kultur-, Buch- und Medienwissenschaftler äußern sich zu verbotener Lektüre in der DDR. Zeitzeugen, insbesondere Aktivisten der heimlichen Verbreitung von "Westliteratur", kommen neben Forschern zu Wort - nicht selten präsentiert sich beides in einer Person. Es "berichten Bücherschmuggler und ehemalige Zolloffiziere, Dissidenten und Postkontrolleure der Stasi". Diese Mischung gibt dem Buch tatsächlich seinen besonderen Gehalt. Die Textbeiträge sind freilich höchst unterschiedlich in Charakter und Qualität und auch die Textgruppierung wirft Fragen auf.
Den Einstieg liefert ein Nachdruck: Mark Lehmstedts Text war bereits elf Jahre zuvor in einem Tagungsband erschienen. Als erster richtete er die Aufmerksamkeit von der Literatur und ihren Produktionsbedingungen weg hin zum ostdeutschen Leser und dessen Interessen. Seine wichtigsten Erkenntnisse bezüglich "Westliteratur" waren: Erstens, explizit politische Texte haben nur wenige Ostdeutsche interessiert und zu illegaler Versorgung animiert. Zweitens: "Es ist schwer zu sagen, welche Bedeutung die Literatur aus dem westlichen Ausland im Gesamtkorpus der gelesenen Bücher für die Leser in der DDR gespielt hat", ihre Wirkung "lässt sich - wenn überhaupt - stets nur individuell erfassen" (33f.). Dies dürfte fraglich sein, Gruppenbewertungen scheinen vielleicht möglich. Doch versuchte kaum einer der Autorinnen und Autoren eine solche sozialwissenschaftliche Grenzziehung. Ansatzweise erscheint sie bei Michael Meyen, der anhand anonymer Umfragen in der DDR sowie eigener Interviews mit vormaligen DDR-Bürgern der Frage nachgeht, wie westdeutscher Hörfunk, Fernsehen und Gedrucktes genutzt wurden. Mit Thomas Klein denkt ein seinerzeit politisch Verfolgter und mittlerweile angesehener Zeithistoriker über "heimliches Lesen und staatsfeindliches Schreiben" in der späten DDR nach. Der Mitbegründer des Pankower Friedenskreises Hans Misselwitz und der Helfer Rudolf Bahros, Guntolf Herzberg, beschreiben ähnliche Lesemilieus jener Zeit und die Objekte ihrer heimlichen Begierde.
"Büchermacher" werden vorgestellt: künstlerischer und politischer Samisdat in der DDR und in Osteuropa. Zu schwierigen bzw. gescheiterten Editionsprojekten der Gegenwartsliteratur und zu verlegerischen (Un-)freiräumen äußern sich Fritz Mierau, Roland Links und Helgard Rost. Robert Havemanns Kommunikationsstrategien stellt Bernd Florath vor. Das Aktionsfeld der DDR-Zollkontrollen umreißt Jörn-Michael Goll. Er macht die Dimension der "Einziehung von Druckerzeugnissen" und die Unterschiede in der Praxis von Post- und Grenzzolleinrichtungen deutlich. Beim MfS mehrere Jahre als "Auswerter" von Postsendungen eingesetzt, kündigte Gerd Reinicke 1985 dem Bewachungsapparat und der SED die Gefolgschaft; er bietet Interna des Postkontrollsystems. Zum Kontrast werden beispielhaft "widerspenstige Leser" und private Bücherschmuggler vorgestellt.
"Kalter Krieg, Schmutz und Schund" ist ein Abschnitt überschrieben, der auf die Spezifik der 1950er und 1960er Jahre eingeht. Harold Hurwitz stellt (autobiografisch akzentuiert) die Zeitschrift "Der Monat" und ihre Verbreitung in der DDR vor, Enrico Heitzer das Wirken der "Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit". Klaus Körner untersucht die antikommunistischen Schriften der Bundesrepublik und die dazu gehörige staatliche Förderung; Hans-Georg Soldat befasst sich (ebenfalls autobiografisch) mit der Literaturredaktion des RIAS. Diese Beiträge gehören zu den fundierten im Band. Die Leserperspektive ist in diesem Abschnitt ausschließlich die Opferperspektive, insbesondere im Beitrag von Baldur Haase. Von "Giftschränken", d.h. besonderen Sperrbeständen in öffentlichen Bibliotheken, Archiven und Museen, die nur streng kontrolliert bzw. überhaupt nicht ausgehändigt wurden, berichten Bibliothekare und Bibliothekswissenschaftler: Literarisch (im Nachdruck) - Günter de Bruyn; mit historischem Blick - Raimund Waligora, Claudia-Leonore Täscher, Roland Bärwinkel; im Interview Torsten Seela (damals zugleich privilegierter Nutzer), sowie ein heimlicher Nutzer, der politisch Verfolgte und als Nachtwächter in der Deutschen Bücherei eingestellte Siegmar Faust.
Wir erfahren, wie internationale Bücherschauen zum Bücherklau genutzt wurden, geschehen vor allem auf der Internationalen Leipziger Buchmesse. Aus MfS-Akten der 1970er und 1980er Jahre heraus rekonstruiert Patricia Zeckert Formen des diebischen, von westdeutschen Ausstellern gelegentlich tolerierten Griffs ins Messeregal und die Überwachungsbemühungen von MfS und DDR-Zoll. Gab es den typischen Bücherdieb, und welche Art von Literatur wurde gestohlen?, fragt sie, die Aufmerksamkeit erfreulicherweise nun doch stärker auf den "heimlichen Leser" lenkend. Karl Corino bringt Selbsterlebtes aus den 1970er Jahren, als er sich, beim Hessischen Rundfunk beschäftigt, auf der Leipziger Buchmesse um einige junge DDR-Autoren "aus literarischen Gründen besonders kümmern" wollte (252). Erich Loests Kontakte über die Messe zu westdeutschen Verlagen erfragt im Gespräch Ingrid Sonntag. Den rechtlich kaum geregelten West-Ost-Transfer von kirchlicher Literatur betrachtet Hedwig Richter. Sie konstatiert Opportunismus auf der Seite der von Zollkontrollen betroffenen DDR-Kirchen und wirft ihnen vor, aus den Einfuhrverboten nicht die "Systemfrage" abgeleitet zu haben. Und wir erfahren, wie das MfS die Verbreitung des Periodikums der Zeugen Jehovas zu verhindern suchte (Hans-Hermann Dirksen).
So behandelt das Buch also vornehmlich das, was im zweiten Teil des Titels annonciert ist. Wo aber doch vom "heimlichen Leser" die Rede ist, entsteht - ganz im Gegensatz zu Lehnstedts Befund - der Eindruck, heimliches Lesen wäre vor allem politisch-weltanschaulich motiviert und entsprechend folgenreich gewesen. Nur ganz am Rand erscheint das Interesse für Karl May, westliche Science Fiction und moderne Unterhaltungsmusik. Die eingangs gestellte Frage bleibt leider unbeantwortet, was wohl auch der Konzeption geschuldet ist, allgemeines Leseverhalten völlig auszublenden. An keiner Stelle des Buches ist "Lesen überhaupt" zu "heimlichem Lesen" in Relation gesetzt. Doch über unerlaubte Medienverbreitung ist einiges Neues zu erfahren.
Siegfried Lokatis / Ingrid Sonntag (Hgg.): Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur, Berlin: Ch. Links Verlag 2008, 406 S., 64 Abb., ISBN 978-3-86153-494-5, EUR 29,90
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