Die historische Forschung zu Armut und Armenpolitik in Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten unübersichtlich geworden. Eine Vielzahl von Studien zu einzelnen Epochen, Regionen und Städten, zu diversen Akteursgruppen, Fürsorgezweigen und Institutionen ist erschienen. Hingegen mangelte es bislang auffallend an aktuellen Syntheseversuchen: Nach wie vor maßgeblich ist die dreibändige Geschichte der Armenfürsorge von Christoph Sachße und Florian Tennstedt, deren erster, vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg reichender Band aus dem Jahr 1980 datiert. Nun hat der Amerikaner Larry Frohman ein Buch vorgelegt, dessen Titel eine ähnlich umfassend angelegte Gesamtschau verspricht, und man ist gespannt, wie er die Aufgabe angepackt hat.
Synthese bedeutet zwangsläufig Auswahl. Frohman fokussiert seine Darstellung auf die diskursiv konstruierten Armutsdeutungen und Abhilfekonzepte von sozialpolitisch tonangebenden Eliten. Die historisch variablen Erscheinungsformen von Armut, ihre sozioökonomischen Hintergründe oder die konkrete Praxis von Armenfürsorge und Wohltätigkeit auf lokaler Ebene spielen hingegen eine nur untergeordnete Rolle, und die Armen selbst kommen fast gar nicht vor. Zeitlich setzt das Buch ebenfalls klare Schwerpunkte. Während die Ausführungen zur Frühen Neuzeit sehr knapp gehalten sind und ausschließlich auf der Sekundärliteratur aufbauen, sind dem zweiten Kaiserreich und zumal der Wilhelminischen Epoche weit mehr als die Hälfte des Umfangs gewidmet. Für diese spätere Zeit hat der Autor auch Quellen, vor allem die zeitgenössische Fachpublizistik, herangezogen.
Trotz aller Seitenpfade zieht sich ein Argumentationsbogen durch das Buch, der es chronologisch in zwei Teile gliedert. Vom ausgehenden Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert kristallisierte sich ein Regime der Armenpolitik heraus, das vorrangig auf Abschreckung setzte: Durch minimalistische, kaum das bloße Überleben sichernde Unterstützungen, die von Strafandrohungen und von erzieherischen Einwirkungsversuchen flankiert wurden, sollten die Armen zu Arbeitsamkeit und Selbstverantwortung gezwungen werden. Unter diesem Leitmotiv skizziert Frohman in den ersten vier Kapiteln die Formierung der städtischen Armenfürsorge im 16. Jahrhundert, die Entwicklung des Arbeitshauses zu einer Kerninstitution frühneuzeitlicher Armenpolitik im 17. und 18. Jahrhundert, die Entfaltung der Vereinswohltätigkeit im Kontext von Liberalismus und frühindustriellem Pauperismus sowie die Reform der staatlichen Armengesetze im mittleren 19. Jahrhundert. Als finale Ausgestaltung dieses Fürsorgeregimes wird schließlich das Elberfelder System vorgestellt.
Das abschreckende Fürsorgeregime behandelte Armut in erster Linie als moralisches Problem. Seine Härte gründete in der Sorge, dass zuviel Unterstützung die Moral nur weiter untergraben und somit die Pauperisierung der Unterschichten vorantreiben würde. Dieses Deutungsmuster, so Frohman, habe sich um die Wende zum 20. Jahrhundert grundlegend zu wandeln begonnen. Es wurde von einer sozialen Interpretation von Armut zurückgedrängt, die ökonomische Strukturen und widrige Milieueinflüsse als Erklärungsfaktoren in den Vordergrund rückte. Damit verbunden war die Hinwendung zu präventiven und therapeutischen Interventionsstrategien, die darauf abzielten, die sozial Benachteiligten als vollwertige Bürger in die Nation einzugliedern. Nicht mehr nur das absolute, sondern ein soziales Existenzminimum sollte gesichert werden und zwar als soziales Recht, das die Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten erst ermöglichen würde. Die längere zweite Hälfte des Buchs behandelt den Aufstieg dieser modernen Konzeption von Wohlfahrt. Nach einem Kapitel zu den Bismarck'schen Versicherungsgesetzen schildert Frohman das Auftreten von neuen Akteuren im Feld der Sozialarbeit, wobei er der bürgerlichen Frauenbewegung besondere Aufmerksamkeit schenkt. Weitere Kapitel illustrieren den Konzeptionswandel unter anderem anhand der Arbeitslosenunterstützung und der Jugendfürsorge. Der Erste Weltkrieg, von dem die letzen zwei Kapitel handeln, verhalf dem neuen wohlfahrtsstaatlichen Ansatz endgültig zum Durchbruch.
Über weite Strecken deckt sich Frohmans Bild des neuzeitlichen Fürsorgewesens mit allgemeinen Positionen der neueren Forschung. Dass es um die Wende zum 20. Jahrhundert eine Gewichtsverlagerung von klassisch liberalen Rezepten hin zur aktiven Intervention gab, dürfte ebenso wenig strittig sein wie die von Frohman betonte Bedeutung der Städte als sozialreformerisches Experimentierfeld: Der moderne Wohlfahrtsstaat wurzelte nicht allein in den staatlichen Sozialversicherungen, sondern mindestens ebenso sehr in urbanen Initiativen. Dennoch verfolgt das Buch eine revisionistische Stoßrichtung: Es reibt sich am Sozialdisziplinierungsparadigma, das in unterschiedlichen Varianten die historische Armutsforschung der letzten Jahrzehnte stark geprägt hat. Frohman verwirft es nicht grundsätzlich, wohl aber Auslegungen, welche die repressiven und exkludierenden Momente des Fürsorgewesens in den Vordergrund stellen. Sein Abrücken von solch einseitig negativen Interpretationen entspricht zwar einem breiteren Trend, aber er geht dabei doch weiter als die meisten neueren Studien, vor allem hinsichtlich des frühen 20. Jahrhunderts.
Er fällt zwar nicht in die lineare Fortschrittsperspektive der älteren Sozialstaatshistoriografie zurück, sondern verweist durchaus auf konservative Beharrungskräfte ebenso wie auf illiberale Tendenzen, die in der neuen, modernen Konzeption von Wohlfahrt latent angelegt waren. Deren dunklere Seiten handelt er jedoch recht beiläufig ab. So wird das Aufkommen von medizinisch-eugenischen Deutungsmustern nur erwähnt, um gleich ihre beschränkte Relevanz festzustellen. Auch andere problematische Entwicklungen, die in der Weimarer Zeit offener zutage treten sollten, werden bloß angedeutet, und zwar unter wiederholtem Hinweis auf die Arbeiten von Young-sun Hong. [1] Auch wenn man zur Kenntnis nimmt, dass diese als Fortsetzung seiner Geschichte konsultiert werden sollten, ist Frohmans Verzicht auf Blicke in die Zukunft doch zumindest ungewöhnlich: Während die jüngere deutsche Forschung zum Fürsorgewesen des frühen 20. Jahrhunderts geradezu beherrscht ist von der Frage nach den Wurzeln der nationalsozialistischen Sozialpolitik, spart Frohman diesen Horizont weitestgehend aus.
Das Buch steht in der Tradition der britisch-amerikanischen Kritik an der Sonderwegsthese, namentlich Geoff Eley ist der Autor eng verbunden. Zugleich knüpft er an Forschungen zum amerikanischen Progressivism an, dessen transatlantische Bezüge seit einiger Zeit verstärkt ins Blickfeld gerückt sind. Der deutschen Ausprägung progressiver Sozialreform gilt sein Hauptinteresse, und er sieht sie am Ende des Untersuchungszeitraums auf dem Vormarsch. Man muss nicht alle seine Bewertungen teilen, um das Buch mit Gewinn zu lesen. Es bietet eine gut lesbare, trotz mancher kleinerer Ungenauigkeiten fundierte und anregende Zwischenbilanz der neueren Historiografie zum deutschen Wohlfahrtswesen.
Anmerkung:
[1] Young-sun Hong: Welfare, Modernity and the Weimar State 1919-1933, Princeton 1998. Siehe auch Dies.: Neither Singular nor Alternative. Narratives of Modernity and Welfare in Germany, 1870-1945, in: Social History 30 (2005), 133-153.
Larry Frohman: Poor Relief and Welfare in Germany from the Reformation to World War I, Cambridge: Cambridge University Press 2008, X + 257 S., ISBN 978-0-521-50603-8, GBP 50,00
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