2009 war das Jubeljahr Rogiers: In der ersten Jahreshälfte zeigten die Kuratoren des Frankfurter Städels und der Berliner Gemäldegalerie, Jochen Sander und Stephan Kemperdick, wie heterogen der Werkkomplex des Meisters von Flémalle ist, um die daraus hervorgehende Künstlerpersönlichkeit Rogier van der Weydens zu diskutieren. [1] Vom 20. September bis zum 7. Dezember präsentierten Jan van der Stock und Lorne Campbell, Letzterer wissenschaftlicher Kurator der National Gallery in London, in der ersten Ausstellung des neuen Museumsbaus "M" in Löwen "Rogier van der Weyden - Master of Passions". Ging es den einen um eine sich aus dem malerischen Werk ableitende stilistische Charakterisierung, war den anderen der ikonologische Ansatz das Mittel der Wahl. Geklärt werden sollte damit die Frage, die seit den Anfängen einer historischen Kunstwissenschaft schon lange nicht mehr so vehement im Raum stand: Was ist von beziehungsweise wer ist Rogier?
Als Einstieg in die Löwener Ausstellung wie auch in das dort propagierte Werkverständnis diente die Ernennung Rogier van der Weydens zum Stadtmaler von Brüssel, die vor allem seine räumliche Selbstständigkeit von der Flémalle-Werkstatt in Tournai markierte. Gleich im ersten Saal beeindruckte der monumentale Berner Herkinbaldteppich den Besucher, der auf eines der verlorenen Gerechtigkeitsbilder zurückgeht, die Rogier im Zuge seines Amtes für das Brüsseler Rathaus angefertigt hatte. Allerdings wurde vor dem gewebten Original deutlich, dass das legendäre, laut Nikolaus von Kues dort zu findende Selbstporträt des Malers den Betrachter keineswegs so eindeutig ansieht, wie gemeinhin erklärt. Ein Kopf setzt sich zwar aufgrund der auffällig rosigen Hautfarbe aus der die Szene kommentierenden Menge ab, sein Blick ist aber nicht aus dem Bild, sondern genau wie im Falle der anderen Figuren auf den sprechenden Schädel im Vordergrund gerichtet, der auf einem Silbertablett präsentiert wird. Mit der Gegenüberstellung des einzigen erhaltenen, stark verwitterten Kapitells der Rathausarkaden und der dazugehörigen Zeichnung, dem "Scupstoel", die als gesicherte Werkstattarbeit gilt, ist die historische Authentizität des Schaffenden hingegen gelungen aufgerufen worden.
Im zweiten Raum wurde die Beziehung Rogier van der Weydens zum Burgunderhof vorgestellt. Illuminierte Prachthandschriften, darunter die Chronik von Hainaut, und die gemalten Porträts Philipps des Guten, Isabellas von Burgund und Karls des Kühnen dokumentierten eindrucksvoll, wie der Meister und seine Werkstatt die bildlichen Repräsentationsformen des Burgunderhofs mitgestalteten. Einmalig war die Zusammenführung des anlässlich der Ausstellung restaurierten Bronzegisants Isabellas von Bourbon mit den zehn noch erhaltenen Pleurants.
Die sich hier andeutende, für die Präsentation der nahezu 100 gezeigten Exponate vorgenommene thematische Schwerpunktsetzung gliedert auch den umfangreichen Katalogteil. Insgesamt elf Rubriken, denen je ein kurzer Einleitungstext zur Orientierung vorangestellt ist, versammeln so Zeichnungen, Skulpturen, Gemälde und Textilien. Neben den beiden bereits besprochenen sind gleich vier dieser thematischen Cluster der weit reichenden Rezeption einmal gefundener Bildformeln Rogier van der Weydens gewidmet. Vorgestellt werden Zitate und Adaptionen von Hauptwerken wie dem Columba-Retabel, der Bostoner Tafel "Der hl. Lukas malt die Madonna" und der "Kreuzabnahme" im Prado in Malerei, Zeichnung, Tapisserie und Buchmalerei der Zeitgenossen. Eindrucksvoll beim Gang durch die Ausstellung war ferner das Experiment, die bildästhetisch interessante Reduktion der Bildsprache Rogiers als wichtiges Gestaltungsprinzip des Malers nachvollziehbar werden zu lassen. So hingen in einem Raum mit blutroten Wänden nicht nur gemalte Bilder sondern auch Skulpturen: Auf diese Weise wurde die für Rogier typische, durch die Verbindung von monochromen Hintergründen und Figurengruppen im Vordergrund hervorgerufene Bildwirkung zu einer für den Besucher ganzheitlichen Erfahrung. An dieser Stelle sei positiv hervorgehoben, dass qualitätsvolle, eigens für den Anlass restaurierte Bildwerke, wie die lebensgroße Beweinungsgruppe aus der Stiftskirche St. Vicent in Soignies, viel Raum in der Ausstellung erhielten und zudem in einem profunden Essay von Bart Fransen behandelt werden (222-237).
Der Katalog enthält außerdem Beiträge der ausgewiesenen Wissenschaftler/Innen, die sich mit den einzelnen Facetten des Rogierschen Werks befassen. Diskutiert werden unter anderem der historische und kulturelle Hintergrund (Jan Van der Stock, Wim Blockmans, Dominique Vanwijnsberghe), das malerische Œuvre (Lorne Campbell, Cathy Metzger, Griet Steyaert), aber auch Rogiers künstlerische Position zwischen Dirk Bouts und Hans Memling (Catheline Périer-D'Ieteren). Der eigentliche wissenschaftliche Verdienst des Katalogs besteht in der Auseinandersetzung mit dem zeichnerischen Œuvre des Wahlbrüsselers und seiner dortigen Werkstatt. Stephanie Buck räumt in gewisser Weise mit dem Mythos auf, Rogier van der Weyden sei ein Zeichner gewesen. In ihrem gewohnt profunden Essay interpretiert sie Funktion und Art der Zeichnungen sowie die Tatsache, dass im Fall Rogier van der Weydens keine autografe Zeichnung erhalten ist (146-161). Im Gegensatz zu dem klar wiedererkennbaren Zeichenstil Jan van Eycks, der auch für die Unterzeichnungen der Gemälde typisch sei, fehle für Rogier eine anhand des Charakteristischen gewonnene Argumentationsgrundlage. Die Unterzeichnung sei zudem geprägt von einer heterogenen Einheitlichkeit, die daraufhin deute, dass alle Mitglieder der Werkstatt Rogiers im gleichen Stil arbeiteten. Dies wird durch den Gang ins Archiv gestützt. Bart Fransen und Stefaan Hautekeete verglichen zeitgenössische Schriftstücke mit dem Kürzel, das viele Zeichnungen aus dem Rogierumfeld aufweisen, um zu zeigen, dass es sich hierbei eindeutig um ein "R" und nicht um das bisher von Fritz Koreny propagierte ligierte Monogramm des Nachfolgers Vrancke van der Stockt handelt (419-420).
Die beiden Essays zum malerischen Œuvre von Lorne Campbell bieten hingegen nur bedingt Neues (32-61 und 104-128). [2] Auch die Präsentation in der Ausstellung spiegelte dies. Die Pariser "Verkündigung", Mitteltafel eines Triptychons, hing zusammen mit dem eigens gereinigten Stifterflügel und dem rechten Flügel mit "Heimsuchung", die beide in Turin aufbewahrt werden, bei schlechter Beleuchtung und als Werkstattarbeit betitelt in einer Ecke. Die "Verkündigung" ist nicht zuletzt aufgrund ihrer subtilen Lichteffekte, die auf intelligente Art und Weise Form mit Inhalt verbinden, jedoch sehr wahrscheinlich von der Hand Rogiers. Hier wäre die Untersuchung einer Bezugnahme Rogiers auf das Werk Jan van Eycks spannend gewesen, wie sie im Übrigen auch für die Bostoner Tafel "Der hl. Lukas malt die Madonna" nahe liegt.
Zweifellos war man auf das malerische Highlight der Ausstellung gespannt, den nach der Restaurierung in neuem Glanz erstrahlenden Sakramentsaltar aus dem Museum für Schöne Künste in Antwerpen. Leider erhielt er aber im Katalog erstaunlich wenig Beachtung. Man hätte sich nach Jahren der Analyse einen detaillierten Bericht und dokumentierende Detailfotos gewünscht. Die Einschätzungen zu Datierung und Stil sind stattdessen, da fast ohne stützende Argumente, nur schwer nachvollziehbar (528-534). So wird zum Beispiel nicht begründet, warum hier nur neun Jahresringe anstatt der sonst üblichen 15 für die Datierung berechnet wurden (534). Eine Entstehung um 1450 und nicht Anfang der 1440er-Jahre, wie im Katalog angenommen, scheint schon aufgrund der Kleidung der Figuren wahrscheinlich. Völlig unberücksichtigt geblieben ist ferner, dass die prominent im Vordergrund positionierte Beweinungsgruppe konzeptionell starke Schwächen aufweist und damit unmöglich von Rogier selbst entworfen worden sein kann. Die Frau auf der linken Seite des Kreuzes, deren Körper den Seitenflügel mit der Mitteltafel verbindet, ist proportional viel zu lang, die in ein Buch vertiefte Sitzende auf der anderen Seite zu klein. Die gesamte Figurengruppe unter dem Kreuz ist in Bewegung, Gesten und Kleidung eine Variation der Protagonisten der "Kreuzabnahme" im Prado. Dies verbindet das Sakramentsretabel mit dem Abbegg-Tripychon und der Berliner "Kreuzigung", die noch deutlich den Stil des Meisters von Flémalles zeigt. Ist es deshalb nicht plausibler hier, genau wie für den Zeichenstil vorgeschlagen, davon auszugehen, dass begabte Werkstattmitarbeiter den Auftrag verantwortlich ausführten? Im Sakramentsretabel die Hand des Meisters in Details wiedererkennen zu wollen, wäre nur im unmittelbaren und sehr genauen Vergleich mit Rogiers gesicherten Altarwerken möglich. Das ist jedoch bis heute ein scheinbar unlösbares Desiderat der Forschung geblieben.
Die wechselnde Zu- beziehungsweise Abschreibung des Magdalenen-Fragments der Londoner National Gallery, der Medici-Madonna aus dem Frankfurter Städel und, im Katalog erstmals geäußert, die Abschreibung des Johannes-Altars der Berliner Gemäldegalerie (122-127) sind besonders symptomatisch für die immer persönlich geprägte Interpretation eines Stils. In einer Zeit, in der technologischer Fortschritt Vieles erleichtert hat, die Fertigkeit der stilkritischen Diskussion vor dem Original aber nicht mehr à la mode ist und damit zu einem seltenen Wissen wird, bleibt als Fazit vor allem der Wunsch nach einem dritten, gemeinschaftlichen Projekt der Spezialisten.
Anmerkungen:
[1] Stephan Kemperdick / Jochen Sander (Hgg.): Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden. Ausst. Kat., Städel Museum, Frankfurt a.M. 2008/09 / Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin, Berlin 2009, Ostfildern 2008. Siehe dazu die Rezension von Jeffrey Chipps Smith, in: Kunstform 10 (2009), Nr. 11, vgl. http://www.arthistoricum.net/index.php?id=276&ausgabe=2009_11&review_id=15409
[2] Lorne Campbell: Van der Weyden, London 1977.
Lorne Campbell / Jan Van der Stock (Hgg.): Rogier van der Weyden. 1400-1464. Master of passions, Zwolle: Waanders Uitgevers 2009, 592 S., ISBN 978-90-8526-105-6, EUR 64,50
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