sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8

Michael Fellner: Katholische Kirche in Bayern 1945-1960

Die Dissertation von Michael Fellner untersucht Wandlungsprozesse des Katholizismus während der Nachkriegszeit und in den fünfziger Jahren. Mit dem Erzbistum München und Freising nimmt Fellner in den empirischen Teilen erstmals eine - nach der Diktion des Forschungskonzeptes zum katholischen Milieu [1] - dem traditional geprägten Katholizismus zugeordnete religiöse Landschaft in den Blick. Darin liegt die besondere Bedeutung der Studie. Die Arbeit konzentriert sich auf eine Analyse der katholischen Lebenswelt in den Pfarreien - es geht um die "Deutungsmuster und Handlungsstrategien" von Katholiken (27) und die "Wahrnehmungen, Wertungen und Handlungsweisen" des Seelsorgeklerus - angesichts der tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen nach 1945 und der Modernisierungsimpulse der fünfziger Jahre. Fellner verfolgt dabei keinen Milieuansatz; die schwierige Frage, inwiefern in seiner Untersuchungsperiode eine Säkularisierung oder Entchristlichung stattfand, spart er folglich aus.

Nach einer Einleitung, die über Forschungsstand, Methodik und Anlage Auskunft gibt, gliedert sich die Studie in sieben Kapitel und ein kurzes Resümee. Das I. Kapitel informiert über Stellung und Arbeit des Klerus und erläutert die Problemkonstellationen der Großstadt- und Landseelsorge des Erzbistums inmitten der "Zusammenbruchsgesellschaft". Kapitel II behandelt die Neuausrichtung der Diözesanstrukturen für die Seelsorge in den fünfziger Jahren, die auf eine Rechristianisierung abzielte. Anhand der Seelsorgsberichte und ergänzt durch Pfarrakten rekonstruiert Fellner in den Kapiteln III bis V in "dichten Beschreibungen" zu drei regionalen Ausprägungen des bayerischen Katholizismus ein hochinteressantes Kaleidoskop spezifischer Problemlagen, Wahrnehmungsmuster und Reaktionen von Laien und Pfarrern gegenüber den unterschiedlichen Herausforderungen der Moderne.

(1) Im ländlich-traditional geprägten Dekanat Ebersberg taucht der Leser ein in die sozialen Probleme von Flüchtlingen und Einheimischen, in den agrarischen Strukturwandel und das Pendlerwesen; dargelegt werden die mühsamen und oft erfolglosen kirchlichen Bemühungen, die Landseelsorge und damit eingeübte religiöse Praktiken umzuformen. Die modernisierend wirkenden Veränderungen der traditionalen Lebenswelt, die von den Priestern teils als Gefahr, teils als Chance für seelsorgliche Neuansätze angesichts eines schwindenden Brauchtumschristentums begriffen wurden, sollten durch einen konservativ-restaurativen Gegendiskurs abgewehrt werden. Insgesamt konnten die Pfarrer ihre Orientierungsfunktion beibehalten - sofern sie mit den neuen Seelsorgsmitteln eher sparsam umgingen.

(2) Mit dem Dekanat Berchtesgaden wird eine Fremdenverkehrsregion untersucht, die nach einer besonderen Stellung durch die Nähe zu Hitlers Berghof ab den fünfziger Jahren den modernen Massentourismus erlebte. Die Pfarrer begegneten dem Tourismus skeptisch, weil er die traditionalen religiösen Orientierungen in Zeit und Raum aus ihrer Sicht durch negativ konnotierte Hektik, Mobilität und Erlebnishunger in Frage stellte. Erst gegen Ende der fünfziger Jahre entwickelte die Diözese ein auf die Bedürfnisse der Gläubigen in der Tourismusregion abgestimmtes Angebot an Gottesdiensten und akzeptierte damit die Eigenlogik dieses Lebensbereiches. Mehr als im ländlich strukturierten Ebersberg war die kulturelle Rückversicherung durch Brauchtum in der Begegnung mit den "Fremden" ein ständiges Diskursthema. Da die Traditionsvereine wichtige Akteure im katholischen Gottesdienstjahr waren, hielt der Klerus andere Aktivitäten der Vereine oft für moralisch anstößig. Das weltliche Angebot zur Freizeitgestaltung auch der Traditionsvereine wurde als Konkurrenz zu religiösen Vergemeinschaftungen in den Pfarreien angesehen. Andererseits empfand der Klerus die Brauchtumsvereine, die darauf bedacht waren, einmal eingeführte religiöse Feierformen zur Traditionsstiftung zu konservieren, auch als Hindernis für moderne Seelsorgsformen.

(3) Das Glanzstück des Buches ist die Beschreibung des Großstadtkatholizismus in München. Die kaum zu überblickende Pfarrlandschaft Münchens wird überzeugend in drei Typen unterteilt: In die Problemzone der Altstadt, geprägt von Kriegszerstörung, Bevölkerungsabwanderung und "Laufchristentum", in die Problemzone der Peripherie, in der Kirchen fehlten und erst Mitte der fünfziger Jahre Neubauten errichtet wurden, und drittens in die Zone zwischen Altstadt und Peripherie. Die Fülle an Einzelbeobachtungen kann hier nicht angemessen wiedergegeben werden; erwähnenswert sind die Erfolge im Neuaufbau von Pfarreien auch unter schwierigen äußeren Bedingungen, etwa die Neugründung in Karlsfeld 1954, inmitten einer Gemengelage von einheimischer Bevölkerung, einer Flüchtlingssiedlung, einer Wohnsiedlung für Ausländer und einer Ansammlung an Schwarzbauten. Neben den Problemen, die eine großstädtisch geprägte sozialstrukturelle Zusammensetzung der Katholiken für die Seelsorge bedeutete, spiegeln die Münchner Pfarreien anders als die ersten beiden Untersuchungsregionen die Vielfalt an liturgischen Formen und pastoralen Konzepten im Katholizismus der fünfziger Jahre wieder. Während das katholische Vereinswesen in München erodierte, differenzierten sich hier die Formen des Laienapostolates aus, die später für die Ausbildung der Kernpfarreien wichtig wurden.

Zeigt Kapitel V also die Diversität katholischen Lebens und die Neuansätze in der großstädtischen Pastorale, so widmet sich Kapitel VI München als "Problemfall" ersten Ranges. In pessimistischer Schau auf München als eine in weiten Teilen entchristlichte Stadt zielten Kardinal Wendel, der Diözesanapparat und ein Spezialistenteam aus Ordensleuten darauf ab, München durch die Großstadtmission von 1960 wieder zu verchristlichen, um die Stadt auf den Eucharistischen Weltkongress im gleichen Jahr vorzubereiten. Die als Milieumission konzipierte Großstadtmission scheiterte letztlich gemessen am utopisch formulierten Ziel. Langfristig schärfte sie den nun mit sozialwissenschaftlichen Methoden kontrollierten Blick der Kirchenverwaltung auf die soziale Realität, mit der die katholische Kirche in der modernen Welt konfrontiert ist. [2] Ein knappes VII. Kapitel fasst das internationale Großereignis des Eucharistischen Weltkongresses auf der Basis vorliegender, nicht aktengestützter Literatur zusammen und rundet die Studie ab.

Die Stärken des Buches liegen in den sorgfältig recherchierten, in Kennerschaft der kirchlichen wie theologischen Grundlagen methodisch innovativ konzipierten und überzeugend dargelegten Analysen kirchlichen Lebens in einem für den deutschen Katholizismus zentralen Raum. Die Kapitel VI und vor allem VII fügen sich nicht so recht zu den anderen Teilen der Studie, die unter dem Vorzeichen des Modernisierungsparadigmas Veränderungen untersuchen. Obwohl sich beide Untersuchungsgegenstände, Großstadtmission wie Eucharistischer Weltkongress, bestens dafür eignen, Probleme des Katholizismus im Umgang mit Erscheinungsformen der Moderne zu analysieren (Stichwort: industrielle Arbeit versus katholischer Anspruch auf Durchdringung aller Lebensbereiche; Eucharistischer Weltkongress als erstes internationales Großereignis in der Bundesrepublik), strukturiert diese Argumentationslinie nicht die Ausführungen. Wird das Modernisierungstheorem einerseits methodisch also nicht in allen Teilen der Arbeit durchgespielt, so engt es den Autor in anderen Teilen ein. Die Seelsorgsberichte für die unmittelbaren Nachkriegsjahre etwa hätte man analytisch auch zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus befragen können. Welche Bedeutung hatten Rücktritte ehemaliger NSDAP-Mitglieder für Pfarreien und wie gingen sie mit diesem Thema um?

Fellners zentrale Gesamtthese lautet, dass die bewusste Bewahrung des Katholizismus in seinen selbst in der traditionalen Variante vielfältigen Formen - also auch der Akzeptanz des ländlich-traditionalen "Eigen-Sinns" gegen seelsorgliche Reformen - inmitten der allmählichen und allenfalls notgedrungenen Öffnung der Kirche hin zur modernen Welt ab Ende der fünfziger Jahre das Katholische in Bayern stabilisierte. Diese trifft sicherlich zu. Die Studie zeigt darüber hinaus, dass für den Katholizismus in Bayern nach 1945 lohnenswerte Forschungsfelder bleiben. So fehlen noch Untersuchungen zu anderen kirchlichen Handlungsebenen, es fehlen wissenschaftliche Biografien zu den Kardinälen Faulhaber und Wendel, schließlich müsste man die Probleme des Katholizismus im Umgang mit der Moderne auch für die nachfolgende (Konzils-)Periode näher erfassen.


Anmerkungen:

[1] Arbeitskreis für Kirchliche Zeitgeschichte (AKKZG), Münster: Katholiken zwischen Tradition und Moderne. Das katholische Milieu als Forschungsaufgabe, in: Westfälische Forschungen 43 (1993), 588-654.

[2] Einschlägig Benjamin Ziemann: Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945-1975, Göttingen 2007.

Rezension über:

Michael Fellner: Katholische Kirche in Bayern 1945-1960. Religion, Gesellschaft und Modernisierung in der Erzdiözese München und Freising (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen; Bd. 111), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2008, 353 S., ISBN 978-3-506-76466-9, EUR 44,90

Rezension von:
Theresia Bauer
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Theresia Bauer: Rezension von: Michael Fellner: Katholische Kirche in Bayern 1945-1960. Religion, Gesellschaft und Modernisierung in der Erzdiözese München und Freising, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8 [15.07.2010], URL: https://www.sehepunkte.de/2010/07/15928.html


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