Bettina Greiner geht in ihrer Studie der Frage nach, warum den ehemaligen Insassen der sowjetischen Speziallager eine allgemein akzeptierte Anerkennung als Opfer eines totalitären Regimes in der deutschen Erinnerungs- und Gedenkkultur versagt blieb. Gleichzeitig versucht sie das Phänomen der zeitgenössisch als Internierungslager bezeichneten Haftorte zu ergründen.
Um es vorweg zu nehmen, eine eindeutige Antwort hat die Autorin nicht parat. Der Zweifel am Opferstatus oder die Wahrnehmung als Opfer zweiter Klasse resultierte hauptsächlich daraus, dass im Gegensatz zu der kleineren Betroffenengruppe der Tribunalverurteilten sich die übergroße Mehrheit jener Personen, die die sowjetische Besatzungsmacht in Sicherheitsverwahrung nahm - Internierte/geheimdienstrussisch "Spezkontingent" - beruflich bzw. ehrenamtlich-politisch für den NS-Staat engagiert hatte.
Für ihre brillant formulierte Arbeit wertete die Autorin "bis dato in der Forschung ignorierte Quellenbestände" (21) aus. Dabei handelt es sich neben der umfangreichen Sekundärliteratur um publizierte Erinnerungsberichte ehemaliger Häftlinge, die überlieferten Unterlagen der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) im Bundesarchiv, Zeitzeugenmaterialien aus dem Museum und der Gedenkstätte Sachsenhausen sowie um einige selbst geführte Interviews. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass die ehemaligen Speziallagerinsassen lediglich "77 monographische Haftberichte und -romane (von 69 Autoren) und 36 Sammelberichte" vorgelegt haben sollen.
In der Einleitung gibt Greiner einen Überblick über das System der zehn Speziallager in der SBZ und verweist auf den für den Rechercheansatz relevanten Unterschied zwischen den beiden hauptsächlichen Häftlingsgruppen - Internierte und Verurteilte. Weiterhin umreißt sie hier den bisherigen Forschungsstand und erläutert ihre eigenen Fragestellungen. Hinsichtlich der Quantifizierung der Verstorbenen sei angemerkt, dass ein Verzicht auf Schätzungen und ein konsequenter Rückgriff auf die Zahlenangaben der bisher vorliegenden "Totenbücher" möglich gewesen wäre.
Im ersten Teil beschreibt Greiner das Willkürliche der sowjetischen Verhaftungspolitik. Ihrem Ergebnis ist nur zuzustimmen. "Verhaftet, interniert, verurteilt und entlassen wurde auf der Grundlage sicherheitspolitischer Erwägungen und tagespolitischer Opportunität." Die verschiedenen Repressionswellen dienten in erster Linie der "schnellstmöglichen Normalisierung und präventiven Pazifizierung." (28)
Konsens gibt es auch, wenn die Autorin es ablehnt, die Speziallager einseitig als ein "Instrument der Entnazifizierung" zu bezeichnen. Gleichwohl stellte aus der Sicht der sowjetischen Sicherheitsorgane nur eine kleinere Gruppe von Internierten ("Werwölfe", "Diversanten", "Waffenbesitzer" u.a.) ein längerfristiges Sicherheitsrisiko dar und wurde auch aus diesem Grund in den Lagern isoliert. Zumindest ein Teil des "Spezkontingents" sollte von vornherein mit der Sicherheitsverwahrung für wirkliche oder unterstellte regimestützende Aktivitäten während der Hitlerdiktatur büßen bzw. pauschal abgestraft werden. Eine erste Überprüfung der Haftunterlagen von 43.853 Internierten nahm eine sowjetische Regierungskommission 1948 vor. Als Ergebnis dieser Aktion wurden im Sommer des gleichen Jahres 27.749 Personen aus den Speziallagern entlassen. Mehrheitlich handelte es sich dabei um Mitglieder und untere Funktionäre der NSDAP sowie der NS-Massenorganisationen, wie zum Beispiel Block- und Zellenleiter. Irritierend ist, dass Greiner die Durchführung von Überprüfungen, die in dem von ihr ausgewerteten Dokumentenband "Sowjetische Speziallager" erwähnt werden, völlig ignoriert und in ihrer Argumentation nicht berücksichtigt. Daher verneint sie bei den Internierten auch kategorisch die Existenz von Haftakten (80).
Das Kapitel über die "Haftmaßnahmen" enthält eine Reihe weiterer fehlerhafter Interpretationen. So die Bewertung der Internierung als ein Repressionsinstrument, welches "eklatant von der sowjetischen Straftradition abwich." (27) Ferner war die Abteilung Speziallager zu keinem Zeitpunkt der SMAD unterstellt (57) und die Internierung wurde auch nicht am 1. Januar 1947 eingestellt (128).
Das zweite Kapitel ihres Buches versteht die Autorin als "eine systematische Annäherung an die Haftbedingungen [in den Speziallagern] und deren Auswirkungen auf das innere Haftregime." (23) In den Mittelpunkt ihrer Ausführungen rückt sie dabei die Geschehnisse im Lager Sachsenhausen. Angesichts der beschränkten Aussagekraft der sowjetischen Verwaltungsakten stellen die Selbstzeugnisse der überlebenden Häftlinge für diesen Themenkomplex die wichtigste Quelle dar. Greiner behandelt die Interviews und Erinnerungsberichte mit gebotener kritischer Distanz und verweist vorweg darauf, dass die Berichtenden dazu neigen, ihre Erinnerungen auch mit dem Ziel einer gesellschaftlichen Anerkennung und Akzeptanz ihrer Leidensgeschichte zu formulieren und in diesem Zusammenhang auf spezifische "Erzählbilder" zurückgreifen. So interpretiert sie zum Beispiel den Topos der Denunziation "als Mittel zur biographischen Immunisierung gegenüber der NS-Vergangenheit" (158) und zur Akzentuierung der eigenen Opferrolle. Weiterhin beschreibt und erläutert die Autorin die Sicht der ehemaligen Insassen auf ausgewählte Aspekte des Lageralltags. Einen zentralen Platz nehmen hierbei die leidvollen und prägenden Erfahrungen mit Hunger und Tod ein. Der Umstand, dass etwa jeder dritte Speziallagerhäftling unter menschenunwürdigen Bedingungen sein Leben lassen musste, ist letztlich grundlegend für das Selbstverständnis der Überlebenden als originäre Opfergruppe. Ausführlich behandelt Greiner die in den Berichten und in der wissenschaftlichen Darstellung eher unterbelichteten Themen "Häftlingshierarchie", "Häftlingsverwaltung", "Funktionshäftlinge", "Spitzel" und "Sexualität". Dagegen bleiben andere Sachverhalte und Ereignisse, wie z.B. Hygiene, Krankheit, kulturelle Betätigung, "Pelzmützentransporte" 1947, Entlassungen ganz oder weitestgehend außerhalb ihrer Betrachtung.
Beim dritten Teil der Ausführungen handelt es sich um den eigentlichen Hauptteil der Studie. Er sticht hervor durch eine präzise und detaillierte Analyse der publizierten Erinnerungsberichte. Anhand von vielen Beispielen und mit Verweis auf typische "Erzählbilder" zeigt die Autorin überzeugend auf, dass die Selbstdarstellungen im großen Maße als "gegenwartsbezogene Interpretationen und Modulationen der Vergangenheit" (41) zu werten sind. Darüber hinaus hängen die unterschiedlichen Erzählperspektiven stark vom Alter des Berichtenden zum Zeitpunkt der Verhaftung, vom Haftgrund und von seinem ehemaligen Status als Internierter oder Verurteilter ab. Bei ihrer Untersuchung nach der öffentlichen Wahrnehmung und Wirkung der verschiedenen Publikationen hinterfragt Greiner auch den Schreibstil, den literarischen Anspruch, die Auflagenhöhe, die Auswahl des Verlages, den Zeitpunkt der Veröffentlichung sowie die Herkunft und den Bildungsstand der Berichtenden.
Sie verweist darauf, dass die ehemaligen Lagerinsassen in der Bundesrepublik ausgehend von einem antikommunistischen Grundkonsens zumindest in den 1950er und 1960er Jahren in der breiten Öffentlichkeit als die ersten "Opfer des Kalten Krieges" (39) anerkannt waren. Einen nicht unwesentlichen Einfluss darauf hatten die Aktivitäten der KgU, diverser Häftlingsverbände, wie zum Beispiel die Vereinigung der Opfer des Stalinismus, und die Annahme des Häftlingshilfegesetzes.
Als Resümee ihrer Untersuchung bietet die Autorin einen kursorisch angelegten Vergleich der sowjetischen Speziallager mit den Internierungslagern in Westdeutschland, den deutschen Konzentrationslagern sowie den sowjetischen Kriegsgefangenen- und Strafarbeitslagern an. Sie kommt angesichts der vielen offensichtlichen Parallelen zu dem eigentlich nicht überraschenden Schluss, dass die Speziallager "eine eigentümliche Melange" (472) der beiden letztgenannten Lagertypen waren. Ihre Bezeichnung als Konzentrationslager ist dagegen nur hinsichtlich der Sicherheitsverwahrung des "Spezkontingents" zutreffend. Diese Kategorisierung berücksichtigt weder die Strafhaft der Verurteilten noch die fehlende Praxis der Zwangsarbeit. Ungewöhnlich polemisch ist auch der Schlusssatz des Buches, welcher die Insassen der sowjetischen Speziallager als "politische Häftlinge von Stalins Gnaden" charakterisiert.
Bettina Greiner hat die Erinnerungsberichte ehemaliger Häftlinge ausführlich und vorbildlich gewürdigt. Gleichwohl führt bei der weiteren Erforschung der sowjetischen Haft- und Internierungspraxis in der SBZ/DDR, die immer noch große Defizite aufweist, kein Weg an der minutiösen Auswertung der sowjetischen Akten vorbei.
Bettina Greiner: Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland, Hamburg: Hamburger Edition 2010, 525 S., ISBN 978-3-86854-217-2, EUR 35,00
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