Jahrzehntelang blendeten Jubiläumsschriften die NS-Zeit allzu gerne aus oder handelten sie im Sinne einer positiven Traditionspflege ohne selbstkritische Reflexion ab. Mittlerweile hat die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Epoche aber auch in diese Gattung historischer Erzählung Eingang gefunden, sodass die Jahre zwischen 1933 und 1945 nun in den meisten Fällen die notwendige Aufmerksamkeit finden. Beate von Miquel geht in ihrer Studie über die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen, die zum 100. Jahrestag ihrer Gründung erschien, noch einen Schritt weiter: Sie konzentriert sich ganz auf die NS-Zeit und beleuchtet Selbstverständnis und Handeln dieser evangelischen Frauenorganisation.
1906 gegründet, zählte die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen Anfang der 1930er Jahre 155.000 Mitglieder und war damit die größte evangelische Frauenorganisation in Deutschland. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten brachte organisatorische, aber kaum personelle Veränderungen. Der Vorstand - dem Frauen angehörten, der aber von Kirchenmännern geführt wurde - konnte seine Arbeit fortsetzen. Als Teil des Evangelischen Frauenwerks erfolgte im April 1934 die Eingliederung der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen in das von den Nationalsozialisten gegründete Deutsche Frauenwerk, in dem bestehende Frauenvereine und -verbände zusammengefasst und der Reichfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink unterstellt wurden.
In neun Kapiteln zeichnet von Miquel die Geschichte der Westfälischen Frauenhilfe im 'Dritten Reich' nach. Die Positionierung der Organisation im Kirchenkampf und die Folgen der Polarisierung zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche nehmen dabei den größten Raum (Kapitel 2 bis 5) ein. Der Leser erhält einen genauen Einblick in die langwierigen internen Richtungsstreitigkeiten, die zur Soester Erklärung vom 26. Oktober 1934 führten. Darin sprach sich der Vorstand der Frauenhilfe gegen eine Zusammenarbeit mit den Deutschen Christen aus und schlug einen Kurs ein, der sich an der Bekenntnissynode orientierte, ohne dass ein offizieller Anschluss erfolgte. Die Autorin blickt nicht nur auf die Ebene der zentralen Organe, sondern beleuchtet auch, wie sich der Kirchenkampf auf die Ebene der örtlichen Frauenhilfen verlagerte, die nun entscheiden mussten, ob sie sich der Soester Erklärung anschlossen. Vielerorts kam es zur Spaltung und Anhängerinnen der Deutschen Christen bauten den Evangelischen Frauendienst auf, der in Westfalen hohe Mitgliedszahlen verzeichnen konnte und sich dauerhaft etablierte.
Im sechsten Kapitel kommt das Verhältnis zu den NS-Frauenorganisationen in den Blick. Die Westfälische Frauenhilfe verfolgte zwar einen klaren Annäherungskurs, konnte gegenüber der Reichsfrauenführung ihre Autonomie jedoch teilweise behaupten. Dennoch musste sie erleben, dass die Arbeit der einzelnen Gruppen durch Versammlungsverbote und Einschränkungen bei der Sammeltätigkeit empfindlich eingeschränkt wurde. Die Beziehung zwischen den lokalen NS-Frauenschaften und den Frauenhilfen gestaltete sich in der Praxis von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. Ausschlaggebend für die Verhältnisse vor Ort war vor allem die Einstellung der nationalsozialistischen Amtsträger und Amtsträgerinnen gegenüber der Kirche. Zudem hing es sehr von den jeweiligen Tätigkeitsfeldern ab, ob Kooperation oder Konkurrenz die Beziehung zwischen NS-Regime und Frauenhilfe prägten. Während die Evangelische Frauenhilfe ihre Mütterarbeit (Kapitel 7) - abgesehen von der gut ausgebauten Infrastruktur der Erholungsstätten - zugunsten der nationalsozialistischen Einrichtungen reduzieren musste, nutzten Einrichtungen der sogenannten nachgehenden Fürsorge (Kapitel 8) die Handlungsspielräume, die ihnen das nationalsozialistische Erbgesundheitsgesetz eröffnete. Das Mädchen- und Frauenheim in Wengern war ein Ort der Zwangssterilisation im 'Dritten Reich'.
Der Beginn des Krieges stellte für die Westfälische Frauenhilfe einen größeren Einschnitt dar als die Machtübernahme 1933. Im Schwesternheim errichtete die Wehrmacht ein Reservelazarett und die Schwesternschaft beteiligte sich an der Kriegskrankenpflege. Die Arbeit der Frauenhilfen vor Ort kam hingegen häufig zum Erliegen, als die ihnen vorstehenden Gemeindepfarrer zur Wehrmacht eingezogen wurden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (Kapitel 9) änderte sich die Situation grundlegend. Die Westfälische Frauenhilfe genoss das Vertrauen der alliierten Besatzungsbehörden und betätigte sich in der deutschen Zusammenbruchsgesellschaft insbesondere bei der Versorgung von Flüchtlingen, Heimkehrern und Kriegsbeschädigten.
Eines wird schnell deutlich: Es handelt sich bei dem Buch nicht um eine klassische Jubiläumsschrift. Wer eine deskriptive Abhandlung zur Geschichte der Westfälischen Frauenhilfe zwischen 1933 und 1945 erwartet, sollte diese Studie nicht zur Hand nehmen. Von Miquel hat vielmehr eine problemzentrierte Darstellung vorgelegt, die nach verbandsinternen Auseinandersetzungen im Kirchenkampf, aber auch nach dem Verhältnis zu NS-Frauenorganisationen und nach der praktischen Arbeit der Frauenhilfe fragt.
Generell fehlen der Untersuchung zusammenfassende Interpretationen sowie Gewichtungen der Ergebnisse. Der Leser muss einiges an Vorwissen über die Geschichte des 'Dritten Reiches' mitbringen, um die Bedeutung der Ausführungen von Miquels über die konkrete Ausformung des Kirchenkampfes im Alltag der lokalen Frauenhilfen oder aber über die Zusammenarbeit mit dem Regime im Rahmen der Zwangssterilisation bewerten zu können. Manch ein historisch interessierter Laie wird bei der Lektüre der teils sehr ausführlichen Darstellung des Ringens um die Soester Erklärung sicherlich versucht sein, das Buch zuzuklappen.
Für Historiker allerdings, die sich der Geschichte aktiver evangelischer Frauen im Nationalsozialismus widmen, finden sich in der Studie viele Ansatzpunkte zum Weiterdenken. Das Quellenmaterial eröffnet einen Einblick in das Innenleben des Verbandes und kann neue Facetten zum eher traditionellen Thema Kirchenkampf hinzufügen. Die gerne bemühten Dichotomien Kirche versus Partei/Staat lösen sich auf und machen einem wesentlich komplexeren Bild von Abgrenzungen, Verflechtungen und Kooperationen Platz. Am Ende ist man neugierig, was dies für die weitere Geschichte des Verbandes in der Bundesrepublik, insbesondere die Interpretation der eigenen Rolle, bedeutet. Die kirchlichen Frauenorganisationen - das hat von Miquels Studie gezeigt - sind nicht nur ein Thema für Festschriften, sondern lohnen sich auch als Forschungsgegenstand.
Beate von Miquel: Evangelische Frauen im Dritten Reich. Die Westfälische Frauenhilfe 1933-1950 (= Religion in der Geschichte; Bd. 13), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2006, 263 S., ISBN 978-3-89534-643-9, EUR 19,00
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