Mit dem vorliegenden Band wird die Publikation der Erschließungsarbeiten zu den im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv lagernden Judizialakten des Reichshofrats (RHR) fortgesetzt. Sie sind die wichtigste Quelle für die Geschichte des Reichshofrats, da sie eines der maßgeblichen Produkte seiner Tätigkeit sind.
Nach dem bislang erschienenen ersten Band der Serie I "Alte Prager Akten" (APA) [1], die vorwiegend Akten aus dem 16. Jahrhundert enthält, spiegelt die Serie II "Antiqua" die Tätigkeit des RHR vornehmlich im 17. Jahrhundert wider und erfasst die Buchstaben H bis Z. Der hieraus nun hervorgegangene 1. Band enthält die Verzeichnung der ersten 43 von insgesamt 1.084 Kartons; 18 Bände sind geplant. Außerdem ist die Publikation der Serie III "Denegata Antiqua" beabsichtigt. Initiiert wurde das gewaltige Projekt von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Österreichischen Staatsarchiv.
Schon jetzt lässt die Gesamtheit des Erschließungsprojekts erahnen, dass die Zahl der vom RHR produzierten Judizialakten die des Reichskammergerichts (RKG) bei weitem übersteigen dürfte. Das bedeutet, dass bereits vor einer Auswertung des jetzt verzeichneten reichshofrätlichen Aktenbestandes die bisherige Vermutung, das RKG habe mit seiner Judikatur größeren Einfluss auf das Rechts- und Verfassungsleben des Alten Reichs gehabt, angezweifelt werden muss. Noch auf einer Konferenz im April 2008 wurde die Neuverzeichnung der mehr als 70.000 überlieferten Prozessakten des RKG, ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) dreißig Jahre lang gefördertes Projekt, entsprechend bilanziert [2]. Ging man demnach bislang davon aus, dass der RHR ungeachtet einiger Überschneidungen hinsichtlich seiner Zuständigkeit in streitigen Verfahren zwischen verschiedenen Parteien vor allem die Funktion einer kaiserlichen Kanzlei wahrnahm und unter anderem Fragen zum Reichslehenswesen oder zu kaiserlichen Rechten ihm vorbehalten waren, scheint dieses Bild vor dem Hintergrund des nun präsentierten Verzeichnisses endgültig überholt.
Nach einem Vorwort des Herausgebers (7f.) und praktischen Hinweisen zur Serie, zur Verzeichnung und ihren Kategorien sowie den Registern (9-17) schließt sich das Inventar mit insgesamt 730 laufenden Nummern an (20-638). Innerhalb jedes Eintrags werden die dazugehörigen Informationen in 14 Verzeichnungskategorien mitgeteilt. Diese orientieren sich einerseits an den Verzeichnungsrichtlinien, die 1978 für das RKG erarbeitet wurden, andererseits an dem Verzeichnungsschema der APA: 1. Aktenserie, 2. Signatur, 3. Verzeichnis, 4. Kläger(in)/ Antragsteller(in)/ Hauptbetroffene(r), 5. Beklagte(r) Antragsgegner(in), 6. Laufzeit des Vorgangs, 7. RHR-Agenten, 8. Vorgangsgegenstand (zeitgenössische Formulierung), 9. Vorgangsgegenstand (moderne Beschreibung), 10. Vorinstanzen, 11. Entscheidungen, 12. Beilagen, 13. Bemerkungen, 14. Angaben zum Umfang der verzeichneten Akten (Folien). Die Einhaltung dieses vorgegebenen Formats hat sich in der Vergangenheit bereits bewährt; dadurch wird eine vergleichende Benutzung ermöglicht.
Was zunächst die Aktenserie selbst betrifft, weist sie ein quellenimmanentes Problem auf: Beim Versuch einer Neuordnung durch den damaligen Registrator Nikolaus von Wolf wurden die Buchstaben A bis G im 18. Jahrhundert den Antiqua entnommen und anderenorts einbezogen. Die nun verzeichnete Serie wird deshalb in absehbarer Zeit in dieser - gekappten - Form erst einmal bestehen bleiben. Auch im Übrigen bereitet die alphabetische Ordnung des Inventars dem Nutzer des Werks einige Schwierigkeiten; so zieht das Fehlen einer stringenten Ordnung etwa nach sich, dass Akten eines Verfahrens verteilt unter dem Namen des Klägers/Antragstellers bzw. Beklagten/ Antragsgegners liegen können.
Zu den zentralen Kategorien zählen die moderne Beschreibung des Vorgangsgegenstands und die Beilagen. Aus ersterer wird das ganze Spektrum der Auseinandersetzungen ersichtlich: Städte der Reichslandvogtei Hagenau erkennen die Autorität des Erzherzogs Maximilian III. von Österreich nicht mehr an (Nr. 100), ein päpstlicher Nuntius wirft dem Bischof von Halberstadt vor, die Augsburger Konfession entgegen dem Religionsfrieden in seinem Hochstift eingeführt zu haben (Nr. 139), Parteien streiten um die Ablösung von zwei Hypotheken (Nr. 15), ausstehender Lohn wird eingefordert (Nr. 588), Familien zanken um die Auszahlung von Heiratsgut (Nr. 521), Unregelmäßigkeiten in Erbschaftsangelegenheiten werden beklagt (Nr. 711), Strafsachen (Nr. 351), militärische Besetzungen (Nr. 649) und Fragen des Bauwesens (Nr. 228) werden behandelt - es zeigt sich, dass der RHR in verfassungspolitischen oder konfessionellen Konflikten in gleichem Maße angerufen wurde wie bei privatrechtlichen und ordnungspolitischen Streitigkeiten.
In den Beilagen sind verschiedenste Schriftstücke aufgeführt, die die Parteien zu den Akten gereicht hatten. Dazu zählen etwa kaiserliche Urkunden, Stadt- und Ratsordnungen, Rechtsgutachten, Kommissionsprotokolle, Verträge, Stammbäume, Landkarten, Wappen und vieles mehr. Gerade hierdurch stellen die verzeichneten Konflikte nicht allein für die Rechts- und Verfassungsgeschichte, sondern auch für die Wirtschafts-, Sozial- und Familiengeschichte eine überaus wichtige Quelle dar.
Den Abschluss bilden die Indices (641-773). Den Anfang macht eine chronologische Konkordanz (641-645). Die verzeichneten Vorgänge sind hier ausgehend von der Datierung ihres ersten und letzten Aktenstücks geordnet. Die Laufzeit des ersten Vorgangs fällt in das Jahr 1530, der letzte in das Jahr 1780. Zwar dürfte es häufiger vorkommen, dass die Angaben in dieser Zusammenstellung wegen der nicht selten unvollständigen Aktenführung nicht den tatsächlichen Laufzeiten entsprechen. Doch lassen sich dennoch grobe Aussagen serieller Natur machen, etwa über die durchschnittliche Dauer von Verfahren am RHR oder etwaige Spitzen bzw. Tiefstände. Es folgt das Register der RHR-Agenten (647-651), das vor allem deshalb ein wichtiges Hilfsmittel darstellt, weil es für diesen Zeitraum das erste Verzeichnis für Parteivertreter überhaupt darstellt. Angegliedert sind sodann ein Verzeichnis der Vorinstanzen, juristischen Fakultäten und Schöppenstühle (653), ein Personen- und Ortsregister (655-738) und der Sachindex (739-771), gefolgt von einem Abkürzungs- und Siglenverzeichnis (773).
Die ansonsten äußerlich sehr nüchtern gestaltete Publikation ist dafür überaus praktisch aufgemacht: Der feste Einband ist mit einem Lesezeichen versehen, auf dem nochmals die Verzeichniskategorien wiedergegeben sind.
Wie schon die Bilanz zur RKG-Verzeichnung gezeigt hat, ist die Erschließung der Akten unerlässliche Voraussetzung für ihre wissenschaftliche Auswertung auf breiter Basis. Mit der Verzeichnung können neue Erkenntnisse über die Geschichte und Rechtsgeschichte Europas und das Heilige Römische Reich der Frühen Neuzeit gewonnen werden. Das Verdienst dieses Projekts kann deshalb nicht hoch genug bewertet werden.
Anmerkungen:
[1] Robert Riemer: Rezension von: Eva Ortlieb (Bearb.): Die Akten des Kaiserlichen RHR. Serie I: APA. Band 1: A-D, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8 [15.07.2010], URL: http://www.sehepunkte.de/2010/07/17651.html (06.10.2010).
[2] Friedrich Battenberg / Bernd Schildt (Hgg.): Das RKG im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung [Tagung - 10.4.-13.4.2008 in Berlin] (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 57), Köln u.a. 2010.
Wolfgang Sellert / Ursula Machoczek (Hgg.): Die Akten des kaiserlichen Reichshofrats (RHR). Serie II: Antiqua Band 1: Karton 1-43, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2010, 773 S., ISBN 978-3-503-09886-6, EUR 230,00
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