sehepunkte 10 (2010), Nr. 12

Kai Schlüter: Günter Grass im Visier

Als "Sperrmaterial. Streng geheim!" wurden die Berichte über das Beobachtungsobjekt "Bolzen" klassifiziert, das 1977/78 "mehrmals in die Hauptstadt der DDR, Berlin, einreiste mit dem Ziel, mit Schriftstellern der DDR, die eine feindlich-negative Haltung einnehmen, zusammenzutreffen" (143). Günter Grass wurde von 1961 bis 1989 mit seinen "Anlaufstellen", "Verbindungen" und "Stützpunktpersonen" in der DDR vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) überwacht. Seit seinem öffentlichen Protest gegen den Mauerbau 1961 galt er als "antisozialistischer Wortführer" (127). Zur Überwachung "angefallen wegen Provokation" heißt es auf dem Suchzettel vom 18. August 1961, mit dem die rund 700 Seiten umfassende Akte Grass' beginnt. Kai Schlüter hat die Materialien in seiner Quellenedition gründlich ausgewertet, chronologisch und thematisch geordnet und durch einen kritischen Kommentar von Grass und betroffenen Schriftstellerkollegen ergänzt, wobei es dem Autor gelingt, die scheinbare Objektivität der Akten in Frage zu stellen, die gefilterte Geheimdienstsicht zu relativieren und Fehler sowie Verfälschungen der Staatssicherheitsberichte zu korrigieren.

Das Buch hat den methodischen Anspruch, "Einblicke in die deutsch-deutsche Kulturgeschichte" zu geben (17). Schlüter unterscheidet dazu fünf Phasen der Überwachung, die nicht nur in Bezug auf den Autor Grass von Interesse sind, sondern auch wichtige kultur- und zeitgeschichtliche Ereignisse betreffen: Die Gruppe 47 in den 1960er Jahren, die geheimen deutsch-deutschen Schriftstellerkontakte in den 1970er Jahren, die Entstehung der Friedensbewegung in der ersten Hälfte der 1980er Jahre, das Erstarken der DDR-Oppositionsbewegungen in den späten 1980er Jahren und die angespannte Atmosphäre des Sommers 1989.

In der ersten Phase von 1961 bis 1966 wird Günter Grass als politischer Schriftsteller überwacht, der sich als Mitglied der Gruppe 47 "an der Hetze - politisch-ideologischer Diversion - gegen die DDR, besonders auf dem Gebiete der Kultur, in Presse, Rundfunk, Fernsehen u.a. Einrichtungen aktiv beteiligte" (41). Wiederholt kommt es zum öffentlichen Schlagabtausch zwischen Grass und linientreuen DDR-Intellektuellen: Im März 1961 richtet Grass an der Universität Leipzig vor versammeltem Auditorium "Grüße des aus dem Institut republikflüchtig gewordenen [Uwe] Johnson aus" (46). Im Mai 1961 prangert er auf dem Deutschen Schriftstellerkongress in Ost-Berlin die Literaturzensur in der DDR an. 1964 in Weimar entwickelt sich eine Auseinandersetzung mit dem Schriftsteller Paul Wiens, "in deren Verlauf der WIENS dem GRASS wegen seines provokatorischen Verhaltens Prügel angedroht hat" (66).

Seit 1965 versucht die Staatssicherheit, sich den Text des noch unveröffentlichten Dramas "Die Plebejer proben den Aufstand" zu verschaffen, was jedoch nicht gelingt. Die "SPD-Schmiere" (67) zeigt einen fiktiven Bertolt Brecht, den "Chef", der während des Arbeiteraufstandes am 17. Juni 1953 seine Bearbeitung von Shakespeares "Tragedy of Coriolanus" probt. Als die Proben von drei Maurern von der Stalinallee - also durch den tatsächlichen Aufstand - unterbrochen werden, baut er deren Bitte um Unterstützung als Zitat in seine Inszenierung ein. Grass kritisiert hier den Sozialistischen Realismus als eine funktional-instrumentelle Kunst. Erst als dieser mit der Realität kollidiert - im Stück fahren draußen Panzer auf und ein schwerverletzter Arbeiter wird hereingetragen -, zeigt Grass den "Chef" voller Skepsis über seine bisherige Haltung. Mit dem hier dargestellten Prozess einer politisch-moralischen Verunsicherung beginnt Grass' Nachdenken über die Möglichkeit eines Dritten Weges.

Für die zweite Phase von Grass' Überwachung in der DDR, zwischen 1974 bis 1980, spielt eben dieses Thema des Dritten Weges eine wichtige Rolle. Die Akten der Staatssicherheit belegen, wie bedrohlich die SED dies empfand. In jener Zeit entsteht das umfangreichste Aktenkonvolut. Seit 1974 entwickeln sich geheime Werkstattgespräche zwischen ost- und westdeutschen Schriftstellern, eine Art "Gruppe 47 in Ost-Berlin" (83). Grass wird als Mitinitiator dieser Treffen "in Fahndung" gestellt (153). Die Staatssicherheit hat den Verdacht, dass er Dissidenten in der DDR beeinflusst und die SPD-Ostpolitik verbreitet. Grass wird als "hartnäckiger Vertreter des sogenannten demokratischen Sozialismus" (128) von der Parteiführung als ernst zu nehmender ideologischer Gegner angesehen und 1977 von Kurt Hager öffentlich attackiert. Durch die Biermann-Ausbürgerung 1976 und die Verhaftung des Schriftstellers Frank-Wolf Matthies 1980 löst sich der Lese- und Diskussionskreis auf. Im November 1980 wird ein Einreiseverbot gegen Grass verhängt.

Die dritte Phase der Überwachung zwischen 1981 und 1986 erfolgt im Rahmen offizieller kulturpolitischer Kontakte: 1981 nimmt Günter Grass an der von Stephan Hermlin initiierten "Berliner Begegnung zur Friedensförderung" teil. Die Diskussionen kreisen um die Möglichkeit, die Friedensbewegung der Bundesrepublik mit Friedensgruppen der DDR in Kontakt zu bringen. Grass, von 1983 bis 1986 Präsident der West-Berliner Akademie der Künste, schlägt Gespräche über eine Zusammenarbeit im Kulturbereich vor. 1984 kommt es zu einem Treffen mit Manfred Wekwerth, Regisseur und Präsident der Akademie der Künste der DDR. Wekwerth berichtet, wie schon in den Jahren zuvor, darüber ausführlich an die Staatssicherheit.

Nachdem 1986 "Die Blechtrommel" und "Die Rättin" in der DDR erschienen waren, wurden Grass 1987 und 1988 zwei Lesereisen in die DDR genehmigt - die vierte intensive Phase der Überwachung. Die Lesungen "innerhalb kirchlicher Objekte" (275) in Magdeburg, Halle und Jena und die zahlreich teilnehmenden "bekannten Exponenten der politischen Untergrundtätigkeit und feindlich-negativen Kunst- und Kulturschaffenden" (281) werden genau observiert. Um politische Publikumsdiskussionen zu vermeiden, sind eigens vorbereitete Teilnehmer beauftragt, rein literarisch-sachliche Fragen zu stellen. Dennoch kommt es im Anschluss an die Lesungen zu Treffen zwischen Grass und Oppositionellen.

Als fünfte Phase der Überwachung identifiziert Schlüter ein einzelnes Ereignis: Zum letzten Mal gerät Grass bei einem privaten Besuch auf Rügen und Hiddensee im Juni 1989 ins Visier des MfS. Die Einladung wurde vom Geheimdienst selbst angebahnt, um einer Einladung durch die Kirche zuvorzukommen. Trotz umfangreicher "Maßnahmen zur operativen Kontrolle des Grass" (316) gelingt keine lückenlose Überwachung. Bei einer kleinen Lesung auf Hiddensee kommt Grass mit Oppositionellen in Kontakt. Wie der MfS-Bericht festhält, "habe sich der Veranstaltungstermin auf der Insel und darüber hinaus herumgesprochen und [...] dazu geführt, dass sich eine ganze Anzahl von 'Nischenleuten' auf der Insel eingefunden hätten, die möglicherweise große Erwartungshaltungen haben" (314).

Kai Schlüters Edition gibt umfangreiches Material für eine deutsch-deutsche Kulturgeschichte an die Hand. Zur Relevanz der Dokumente trägt insbesondere bei, dass scheinbar unbedeutende Randphänomene und Begleitumstände von der Staatssicherheit miterfasst wurden. Diese beiläufigen Informationen erhellen wesentlich das Umfeld, auf das Grass während seiner Reisen stieß. Somit erlaubt die Quellenedition auch wertvolle Einsichten in den Alltag der DDR.

Rezension über:

Kai Schlüter: Günter Grass im Visier. Die Stasi-Akte. Eine Dokumentation mit Kommentaren von Günter Grass und Zeitzeugen, 2., durchges. Auflage, Berlin: Ch. Links Verlag 2010, 379 S., ISBN 978-3-86153-567-6, EUR 24,90

Rezension von:
Anne Barnert
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Anne Barnert: Rezension von: Kai Schlüter: Günter Grass im Visier. Die Stasi-Akte. Eine Dokumentation mit Kommentaren von Günter Grass und Zeitzeugen, 2., durchges. Auflage, Berlin: Ch. Links Verlag 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 12 [15.12.2010], URL: https://www.sehepunkte.de/2010/12/18005.html


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