Die Jerusalemer Gedenkstätte für die unter dem Nationalsozialismus ermordeten Juden hat nach langjährigen Vorarbeiten ein Lexikon der Gettos im Osten Europas herausgegeben. Es enthält rund 1100 Einträge zu Orten, die seinerzeit von Deutschland und seinen Verbündeten beherrscht wurden und heute in zwölf verschiedenen Staaten liegen.
Zu Beginn werden die Hauptautorinnen und -autoren für die Gettos in einzelnen Teilgebieten genannt (darunter für Polen: Lea Prais, Ungarn: Kinga Frojimovics, Lettland: Esther Hagar, Weißrussland: Arkadi Zeltser, Krim und Nordkaukasus: Kiril Feferman, XI). Jeder Buchstabe wird mit einem Zitat aus dem Zeugnis eines Überlebenden eingeleitet, das mit einem der folgenden Orte in Verbindung steht.
Die Länge der Beiträge orientiert sich an der Größe, Dauer des Bestehens und Wichtigkeit der Gettos, wobei Warschau (897-921) naturgemäß herausragt und auch Lodz (403-412) und Theresienstadt (821-831) ausführlicher abgehandelt werden; nur diese Artikel sind mit den Namen ihrer Verfasserinnen gezeichnet (Havi Dreifuss, Michal Unger bzw. Ruth Bondi). Im Fall von Minsk (474-482) beruft sich das Lexikon auf einen Aufsatz von Dan Zhits.
Einträge von ca. sieben bis acht Seiten sind Budapest, Kaunas, Krakau, Lemberg, Riga, Sosnowiec oder Wilna gewidmet, und etwas weniger wiederum Białystok, Kielce, Lublin und anderen Städten. In diesen letzteren Fällen enthält der standardisierte Aufbau einen Blick auf die Lage vor Beginn der Besatzung, der manchmal bis 1918 zurückreicht, dann eine Schilderung der Besatzungsherrschaft. Dabei stehen die Reaktionen jüdischer Einrichtungen und Akteure, die oft namentlich genannt werden, im Mittelpunkt. Der Weg der Opfer über verschiedene Stationen der Entrechtung und Einschränkungen wird fast stets bis zur Auslöschung der jeweiligen jüdischen Gemeinde nachgezeichnet. Die Namen der vor Ort für die Deportationen konkret verantwortlichen Nicht-Juden finden nur manchmal Erwähnung. Schließlich wird - sofern nachweisbar - über den jüdischen Untergrund und Widerstand berichtet. Die Information, dass am 21.7.1942 zum ersten Mal bewaffneter Widerstand in einem Getto geleistet wurde (hier als "Schlacht" bezeichnet, der die meisten Juden und einige Dutzend Deutsche und Litauer zum Opfer gefallen seien), kann man dem kleinen Artikel über Nieśwież in Weißrussland entnehmen (520-522).
Die meisten der kürzeren Einträge stützen sich auf das seit 1969 in vielen Bänden bei Yad Vashem auf Hebräisch erschienenen Sammelwerk Pinkas ha-Kehillot (Encyclopedia of Jewish Communities from their Foundation till after the Holocaust). [1]
Das durch Gelder der Conference on Jewish Material Claims Against Germany geförderte Lexikon bietet eine Fülle von Informationen. Grundlegend ist der vor der "Allgemeinen Einleitung" platzierte Artikel von Dan Michman "The Jewish Ghettos under the Nazis and their Allies: the Reasons behind their Emergence" (XIII-XXXIX), der sich mit dem Bedeutungswandel des Getto-Begriffs in den ersten drei Jahren der NS-Herrschaft in Osteuropa befasst. Waren damit anfangs die - in Polen schon vor 1939 bestehenden - Judenviertel gemeint, so verstanden die Machthaber seit 1941 unter Getto eher die städtische Version eines Zwangslagers [2], und 1942 sahen sie es schließlich als Vorstufe zur restlosen physischen Vernichtung seiner Insassen an.
In ihrer Einführung definieren die Herausgeber ihren Untersuchungsgegenstand als "any part of a preexisting settlement occupied by Nazi Germany where Jews were forcibly confined for at least a few weeks" (XL). Schon im Vorwort erklären Yehuda Bauer und Israel Gutman, es gehe um Zwangswohnviertel für Juden, welche die "German Nazis" organisiert hatten; tatsächlich werden aber auch zahlreiche Einrichtungen dieser Art in Ungarn und Rumänien einbezogen; die Mehrzahl der von den Rumänen in Transnistrien errichteten Gettos ist nach Auffassung der Herausgeber noch nicht genügend erforscht, daher sind ihre Namen nur im Anhang aufgelistet.
Dem populären Zuschnitt des reich bebilderten Lexikons, das sich an ein breiteres Publikum wendet, sind die Quellennachweise zum Opfer gefallen. Vereinzelt wird auf Unsicherheiten in der Überlieferung hingewiesen (etwa bei der Datierung der Gettoisierung in Suchowola, 773). Im Anhang finden sich Informationen über "Judenhäuser in Germany", die sich auf Artikel von Marlis Buchholz und Konrad Kwiet berufen, deren Titel und Nachweise nicht genannt werden (999-1001). Das Glossar (1003-1021) enthält neben zuverlässigen wenig differenzierte Erklärungen wie jene zu den polnischen Nationaldemokraten ("Endecs/Endecja, 1007) und fehlerhafte wie Generalgouvernement (GG), wo es u.a. heißt, "Poland's six death camps [were] either located within or adjacent to its territory" (1009); bei Agudas Jisroel wird erläutert, die Partei sei 1912 in "Kattowitz, Poland" gegründet worden (1003); konfus ist die Erläuterung zum Bezirk Zichenau (1005), der übrigens ebenso wenig ein "polnischer" Terminus ist wie "Bezirk Bialystok"; "Gendarmerie" bezieht sich hier nur auf Ungarn und lässt deren verhängnisvolle Rolle im GG völlig außer Acht. Die Auswahlbibliografie enthält u.a. auf Polnisch (und auch auf Hebräisch und Jiddisch) erschienene Studien, deren Titel nur in englischen - mitunter fehlerhaften - Übersetzungen genannt werden; sechs deutsche Titel sind auf Deutsch notiert (1022-1028). Insgesamt gibt es hier allzu viele Schreibfehler. Einfache, schematische Karten (1030-1035) zeigen die Lage der Orte mit Gettos, bilden jedoch nicht die Grenzen der zeitgenössischen Verwaltungseinheiten ab, denen die Gettos im Text immer zugeordnet werden. Orte im 1939 von der Roten Armee besetzten und dann 1941 von der Wehrmacht eingenommenen Ostpolen sind manchmal falsch lokalisiert: So lagen Prużana, Linowo und andere Gettos nicht im Reichskommissariat Ukraine, sondern im Reichskommissariat Ostland. Der Verzicht auf ein Personenregister erweist sich als empfindlicher Mangel.
Der Wert von Fotos als historischer Quelle wird eingehend thematisiert (LXIV-LXXVI). Daher muss es verwundern, dass es in der Erläuterung zu einer vergrößerten Aufnahme auf Seite 802 heißt, es handle sich um Juden, die am 23.9.1942 aus dem Getto Szydłowiec deportiert wurden; da jedoch keine(r) der Abgebildeten "am rechten Ärmel" die Armbinde trägt, die seit 1939 von Juden angelegt werden musste, ist es weitaus wahrscheinlicher, dass das Foto einem anderen Kontext zuzuordnen ist. Bei den Abbildungen fallen zudem zahlreiche Ungenauigkeiten der Übersetzung ins Auge; so wird bei einem Foto aus Radom der zivile Stadthauptmann als "City commander" (630) statt "mayor" und der Oberbürgermeister in Piotrków 1939 fälschlich als "the German commander" (593) wiedergegeben. Gaststätten werden hier "recreation resorts" (XVIII) statt "restaurants" genannt und Wehrmachtsangehörige als "Relatives of Wehrmacht soldiers" (44) missverstanden. Auf dem Foto aus Warschau nach Seite 196 heißt es: "Seuchensperrgebiet. Nur Durchfahrt gestattet", was sich verwandelt in: "Typhus. Passage permitted only while traveling".
Die Stärken des Getto-Lexikons liegen da, wo es ihm gelingt, den aktuellen Forschungsstand in Israel zu vermitteln. Dieser beruht indes großteils auf Zeugenberichten von Überlebenden und auf den Erinnerungsbüchern der ausgelöschten Gemeinden; die seit der Wende von 1989 enorm angewachsene historische Forschungsleistung wird nicht immer mit berücksichtigt. Dies trifft auch für die Erkenntnisse der neuen deutschen Täterforschung zu, wenngleich gerade sie manche Einzelheiten im Ablauf des Genozids aufzuhellen vermag. Mehr noch würde sich freilich über die Gettos herausfinden lassen, wenn weitere Bestände vor Ort ausgewertet würden; mit dieser Grundlagenarbeit geht es allerdings kaum voran. So mangelt es, wie ein Blick auf das besetzte Polen zeigt, bis heute an einer Gesamtdarstellung der zentralen Fürsorgeeinrichtung im GG, der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe, die für die Gettoisierten eine wichtige Rolle spielte, und selbst einige der bekanntesten Bestände - beispielsweise das Untergrundarchiv des Warschauer Gettos im Jüdischen Historischen Institut oder die "jüdische Belange" betreffenden Dokumente der polnischen Untergrundorgane in Warschau - sind in Bezug auf ihren Informationsgehalt über die Zwangswohnviertel für Juden noch lange nicht hinreichend untersucht worden. Somit kann vielleicht von einer Gesamtübersicht im Moment prinzipiell kaum mehr verlangt werden, als in diesem Getto-Lexikon enthalten ist. Man sollte sich aber bewusst sein, dass der von Yad Vashem gesammelte Wissensstoff nur ein Zwischenergebnis wiedergibt und nicht alle Angaben dem Kenntnisstand entsprechen, der sich inzwischen dank zahlloser Initiativen auf lokal- und regionalgeschichtlicher Ebene herausgebildet hat. Umfassendere Erträge ließen sich hier erst durch internationale Forschungskooperationen erzielen. Doch die Zeit dafür ist bei den betreffenden Institutionen, Wissenschaftspolitikern und -managern, die sich keinem übernationalen Erinnerungsauftrag verpflichtet fühlen und im Grunde dem nationalen Blickwinkel auf den Judenmord verhaftet bleiben, gegenwärtig offenbar noch nicht reif.
Anmerkungen:
[1] Auf Englisch liegt davon eine Kurzfassung in drei Bänden vor: The Encyclopedia of Jewish Life Before and During the Holocaust, Jerusalem / New York 2001.
[2] Siehe auch: Dan Michman: The Emergence of Jewish Ghettos during the Holocaust, Cambridge / New York 2010.
Guy Miron / Shlomit Shulhani (eds.): The Yad Vashem Encyclopedia of the Ghettos During the Holocaust, Jerusalem: Yad Vashem 2009, 2 Bde., LXXVI + 1067 S., ISBN 978-965-308-345-5, USD 167,00
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