Die europäische Freimaurerei bildete einen der wirkmächtigsten gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren des 18. Jahrhunderts. Vor allem als zentraler Motor eines Übergangs von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft ist sie seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in der historischen Forschung intensiv gewürdigt worden. In der Historiographie zur Freimaurergeschichte spiegeln sich daher auch die allgemeinen methodischen Entwicklungen der Geisteswissenschaften nach 1945. Angefangen bei eher geistesgeschichtlich orientierten Studien folgten in den siebziger und achtziger Jahren sozialgeschichtliche Forschungen, bis in den vergangenen zwei Jahrzehnten kulturwissenschaftliche Zugänge hinzutraten. [1] Ein zentraler Bereich sowohl der Freimaurergeschichte des 18. Jahrhunderts als auch der neuen Kulturgeschichte und Historischen Anthropologie ist trotz eines Pionieraufsatzes von Norbert Schindler aus dem Jahr 1982 jedoch bislang relativ unterbelichtet geblieben: die Rituale der Freimaurer. [2]
In ihrer Berliner Dissertation von 2005 hat die Theaterwissenschaftlerin Kristiane Hasselmann sich nun dem Themenfeld umfassend angenommen. Hasselmann interpretiert die Rituale der Freimaurer als Praktiken zur performativen Einübung einer "Habitus-Ethik" und verortet ihre Entstehung historisch im Kontext des Aufkommens einer "commercial society" im England des 18. Jahrhunderts. Die neu entstehenden Bedingungen marktförmigen Austausches hätten eine "Reformation of Manners" erfordert, auf die die Freimaurer mit ihrer spezifischen clandestinen Einübungsethik erfolgreich geantwortet hätten.
Die Arbeit ist in drei große Abschnitte gegliedert, die grob gesagt philosophische und kommunikationshistorische Voraussetzungen, rituelle Praxis sowie die Ambivalenzen von Hedonismus und freiwilliger sozialer Disziplinierung analysieren. Um die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Wertesystemen und symbolisch-performativer Praxis jenseits pauschaler Hinweise auf das Gedankengut der Aufklärung geistesgeschichtlich zu kontextualisieren, geht Hasselmann zunächst ausführlich auf die Philosophie John Lockes und dessen "law of opinion and reputation" sowie George Lillos Drama The London Merchant (1731) ein. Vor dem Hintergrund dieser spezifischen moralischen Kodierung des öffentlichen gesellschaftlichen Auftretens im Sinne eines "actor-spectator Modells" und der ethischen Herausforderungen einer sich dynamisierenden Marktgesellschaft wird die Freimaurerei als kulturelle Schlüsselagentur zur Formierung bürgerlicher Habitusmuster interpretiert.
Nach einer Darstellung der Entwicklung der Logenarchitektur widmet sich der dritte Hauptteil dann den tatsächlichen Ritualen der Aufnahme zum Lehrling, Gesellen und Meister (149-191). Hasselmann reflektiert zunächst die Quellenproblematik der Ritualanalyse, für die sie vor allem so genannte Enthüllungsschriften heranzieht (154f.). Sie vertritt dabei die interessante These, dass diese Schriften bewusst von den Freimaurern selbst lanciert worden seien, um eine Homogenisierung der Rituale bewirken zu können, ohne das Verschriftlichungsverbot zu verletzen. Während sich die Initiationen von Lehrling und Geselle stark ähneln und wenig Dramatik besitzen, erfolgt der entscheidende Schritt mit der Erlangung des Meistergrades. Neben einer klar strukturierten Analyse der Hiram-Legende und grundlegender Zeichen und symbolischer Handlungen geht die Verfasserin ausführlich auf die Rolle des Körpers des Initianden ein, den sie als "physiologische Erfahrungsebene der habituellen und mentalen Veränderungen" begreift (191).
Als besonders gelungen erweisen sich die Kapitel über hedonistische Tendenzen (vor allem übermäßigen Alkoholkonsum) und öffentliche Kritik an der Freimaurerei in Gestalt von Spottprozessionen (237-271). Ähnlich wie bereits bei den Verräterschriften kann Hasselmann überzeugend darlegen, dass sich entsprechende Praktiken der Kritik aus dem Kreis der Maurer selbst speisten, um unkontrollierter öffentlicher Kritik externer Gegner zuvorzukommen. Egal ob internen oder externen Ursprungs zwang die Kritik die geheime Gesellschaft jedoch ihre Ziele und Absichten gegenüber der Öffentlichkeit zu explizieren und produzierte dadurch zahlreiche Selbstbeschreibungen, die heute als zentrale Quellen dafür dienen, masonische Denkrahmen zu rekonstruieren.
Der zwischen kulturhistorischer Fallanalyse beziehungsweise der Rekonstruktion ritueller Praktiken einerseits und philosophischer Ideendiskussion andererseits schwankende Gesamtcharakter der Untersuchung wird am Ende noch einmal besonders in der Beschäftigung mit John Tolands Pantheistikon (1720) deutlich (308-329). Obwohl letztlich gar kein direkter Bezug Tolands zur Freimaurerei nachgewiesen werden kann, werden seine Ideen breit rekapituliert und diskutiert, um den philosophiehistorischen Kontext der freimaurerischen Habitusethik bereit zu stellen.
Die zum Teil ausführlich erörterten theoretischen Referenzen der Berlinerin sind zahlreich: Neben Reinhard Koselleck und Jürgen Habermas werden unter anderem Ferdinand Tönnies, Max Weber, Talcott Parsons, Cornelius Castoriadis, John Rawls, Axel Honneth, Otto F. Bollnow, Pierre Bourdieu, Michel Foucault oder Judith Butler bemüht, so dass man sich die Frage stellt, ob die Arbeit nicht stellenweise ein wenig theoretisch überfrachtet ist. Hasselmans Gentleman Masons kommen vor diesem Hintergrund teilweise etwas postmoderner daher, als es das 18. Jahrhundert wohl auch im "progressiven" England möglich machte. Die Dialoge zwischen dem Baukasten moderner Kulturtheorie und der Aufklärungsphilosophie sind in jedem Falle anstrengender zu lesen als die sehr plastischen, historisch-empirischen Beschreibungen und Analysen symbolischer Kommunikation. Weniger wäre hier eindeutig mehr gewesen.
Insgesamt hat Hasselmann eine sehr reflektierte Diskursgeschichte masonischer Vergesellschaftungsprozesse im England des 18. Jahrhunderts vorgelegt, deren Schwerpunkte allerdings weniger in der sozialgeschichtlichen Rekonstruktion des Logenlebens als vielmehr im Bereich der ethischen Reflexionen liegen. Die Analyse der Habitus formierenden Funktion der freimaurerischen Rituale ist im Ganzen absolut überzeugend und kann künftigen Studien zur Freimaurerei im Alten Reich wie anderen europäischen Ländern als theoretisches Vorbild dienen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. als Überblick Manfred Agethen: Dreißig Jahre deutsche Freimaurerforschung zum 18. Jh.. Eine Bilanz, in: Heinz Duchhardt / Claus Scharf (Hgg.): Interdisziplinarität und Internationalität. Wege und Formen der Rezeption der französischen und der britischen Aufklärung in Deutschland und Rußland im 18. Jahrhundert, Mainz 2004, 257-280.
[2] Norbert Schindler: Freimaurerkultur im 18. Jahrhundert, in: Robert M. Berdahl u.a. (Hgg.): Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1982, 205-262.
Kristiane Hasselmann: Die Rituale der Freimaurer. Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus im England des 18. Jahrhunderts, Bielefeld: transcript 2009, 371 S., ISBN 978-3-89942-803-2, EUR 29,80
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