"Der Fall Kaspar Hauser" gehört zu den merkwürdigeren Phänomenen der Geschichte des 19. Jahrhunderts. Das hat zahlreiche Gründe. An allererster Stelle zu nennen ist die merkwürdige Geschichte eines Jungen, der am Pfingstmontag 1828 in Nürnberg auftaucht, angibt, seine ganze Kindheit in einem Kerker verbracht zu haben, zum Gespräch der Stadt, der Region und Europas wird - und der 1833 in Ansbach auf fast ebenso rätselhafte Weise zu Tode kommt. Dazu kommen die zahlreichen Spekulationen, die bereits Zeitgenossen über seine tatsächliche Herkunft anstellten - war er der Sohn eines Domherren, eines ungarischen Magnaten, einer Prinzessin des Hauses Baden? Warum interessierte sich ein seinerseits merkwürdiger englischer Peer zunächst so für ihn, dass er sich zu seinem Vormund machen ließ, und warum war Lord Stanhope nach Hausers Tod so erpicht darauf, die Glaubwürdigkeit seines Mündels zu erschüttern? Wer hatte ein Interesse daran, ihn zunächst zu verwunden und dann zu ermorden? Oder handelte es sich bei den beiden dokumentierten Attentaten um - beim zweiten Versuch fatale - Bemühungen Hausers, ein abflauendes öffentliches Interesse wiederzubeleben? Schließlich gibt es eine reiche Forschungs- und Spekulationstradition, die bemüht ist, die wahre Herkunft Kaspar Hausers zu klären oder ihn in bestimmte Welterklärungsmodelle einzubauen.
Vor diesem Hintergrund ist es keine einfache Aufgabe, eine Einführung in die Geschichte Kaspar Hausers zu schreiben - die eine oder andere Fraktion von Hauser-Kennern wird man sich immer wenn nicht zum Feind, so doch zum Kritiker machen, und entsprechend gehen die Bewertungen des Buchs auf Amazon deutlich auseinander. [1]
Schiener unterteilt ihr Buch in zwei große Abschnitte. Der erste ist dem 'realen' Kaspar Hauser gewidmet, der zweite den Versuchen, das Rätsel zu klären, ob er ein (eventuell psychisch kranker) Hochstapler war, der die Geschichte seiner Inhaftierung nur erfunden hatte, oder ob es sich doch um einen Angehörigen des Hauses Baden (oder einer anderen prominenten Familie) handelte. Dabei steht am Ende keine Lösung - schließlich widersprechen sich auch die DNS-Untersuchungen, die 1996 und 2002 an unterschiedlichen 'authentischen' Hauser-Materialien durchgeführt wurden; die eine spricht gegen, die andere möglicherweise für eine badische Abstammung.
Immerhin macht Schiener deutlich, dass die Geschichte einer langen Kerkerhaft im Dunklen sehr vielen Zeugenaussagen, die Hauser 1828 beschreiben, widerspricht. Ihre Darstellung ist sehr quellennah gehalten und bemüht sich, mit direkten Zitaten zu operieren, die mit kürzeren (gelegentlich emotional wertenden) Texten in plausibler Weise aneinander gereiht werden. So entsteht ein dichtes und differenziertes Bild des Phänomens Kaspar Hauser.
Etwas schwächer fällt der zweite Teil zur Rezeptionsgeschichte aus. Er konzentriert sich vor allem auf die Versuche, das Rätsel der Herkunft zu lösen - die bekanntlich alle ins Leere gelaufen sind, egal, ob es um die Identifikation von möglichen Kerkern, möglichen Krankheitsbildern oder möglichen Verwandten ging. Auch diese Schilderung ist plausibel, anschaulich und verrät dem Nicht-Spezialisten viele Details. Sie behandelt aber die Frage, warum Hauser wen wann faszinierte, deutlich weniger intensiv, und lässt die auch in der Einleitung hervorgehobene anthroposophische Hauser-Literatur weitgehend beiseite, so dass eine wichtige Facette des Verlaufs der Hauser-Rezeption unterbelichtet bleibt.
Das ändert aber nicht das geringste daran, dass man allen, die sich für Hauser interessieren, ohne bereits Spezialisten zu sein, das Buch als eine abgewogene, solide recherchierte und angenehm zu lesende Darstellung nur empfehlen kann.
Anmerkung:
[1] Vgl. http://www.amazon.de/Fall-Kaspar-Hauser-Anna-Schiener/dp/3791722476/ref=sr_1_1?ie=UTF8&s=books&qid=1303419964&sr=8-1 [21.4.2011].
Anna Schiener: Der Fall Kaspar Hauser, Regensburg: Friedrich Pustet 2010, 232 S., 23 s/w-Abb., ISBN 978-3-7917-2247-4, EUR 22,00
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