Sanaa im November 1930 - Den Rabbiner Sālim b. Sa'īd al-Ǧamal, Vertreter der jüdischen Gemeinde und Kontaktperson zum lokalen Herrscher, dem Imam Yaḥyā b. Muḥammad Ḥamīd ad-Dīn al-Mutawakkil 'alā 'llāh, erreicht die Bitte, einen Kollegen im Gefängnis von Sanaa zu besuchen. Dieser war in Folge einer Rechtsstreitigkeit mit einem anderen Juden auf Anlass des für Juden zuständigen Richters eingesperrt worden. Auf dessen Bitten setzt sich al-Ǧamal bei Imam Yaḥyā für den Kollegen ein, so dass dieser nach mehrmonatigem Gefängnisaufenthalt gegen eine Zahlung von 150 Riyal freikommt.
Sanaa im Februar 1941 - Der zwölfjährige, jüdische Junge Joseph Banai wird auf Befehl des Gouverneurs von ar-Rauḍa gefangen genommen und durch das Einflössen unkoscherer Suppe zwangsweise zum Islam konvertiert. Josephs Eltern wenden sich an die Gemeindeführung, worauf sich al-Ǧamal, auch genannt Rabbi Gamliel, bei Imam Yaḥyā für den Jungen einsetzt. Der Imam lässt den Gouverneur mit dem Jungen zu sich kommen und befiehlt dem Gouverneur Josephs Zwangskonversion rückgängig zu machen, worauf dies geschieht.
Sanaa im Frühjahr 1943 - Während in Europa der Zweite Weltkrieg tobt, entführen im neutralen Jemen zwei Soldaten die junge Naẓra b. Sulaimān aus dem Haus ihrer Mutter unter dem Vorwand, Eier kaufen zu wollen. Nach einem mehrtätigen Aufenthalt Naẓras im Haus des Gouverneurs von Ḫamr heiratet einer der Soldaten Naẓra. Die Mutter reicht Beschwerde bei Imam Yaḥyā ein, der die Sache nach eingehender Untersuchung für erledigt erklärt, als Naẓra erklärt, dass sie zum Islam konvertiert sei. Naẓras Schwester bittet Rabbi Gamliel sich bei Imam Yaḥyā dafür einzusetzen, dass sie Naẓra besuchen könne, um von ihr persönlich über die Sachlage unterrichtet zu werden. Die Schwester und Rabbi Gamliel werden zu Naẓra, die sich in den Frauengemächern Imam Yaḥyās befindet, vorgelassen und erfahren von Naẓra, dass sie freiwillig konvertiert sei und sie nichts weiter zu sagen habe. Rabbi Gamliel erkennt diese Tatsache an und teilt dies Naẓras Mutter mit.
Diese drei Fälle bilden den Kern von Kerstin Hünefelds gedruckter Magisterarbeit, in der sie das Schutzverhältnis zwischen Imam Yaḥyā und den Juden im Jemen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersucht. Dazu wertete die Autorin die von Rabbi Gamliel selbst herausgegebene Quellensammlung "ha-Yehudim ve-ha-Melekh be-Teiman (Die Juden und der König im Jemen)" (gedruckt in Jerusalem 1986) systematisch auf.
Anhand der drei genannten Fallbeispiele zeigt Hünefeld, wie "das Schutzverhältnis im konkreten Fall" funktionierte (10) und welche Rückschlüsse sich aus dem Schutzverhältnis "auf Imam Yaḥyās Selbstverständnis als zaiditischer Imam und seine Art zu herrschen" ziehen lassen (10).
Die Monographie gliedert sich neben einer allgemeinen Einleitung in zwei Teile: fünf einführende Kapiteln und die Interpretation der drei Fallbeispiele.
Das erste einführende Kapitel beschreibt die Geschichte der Juden im Jemen und widmet sich insbesondere dem klassischen Rechtsstatus von Juden unter islamischer Herrschaft. Juden gelten nach klassisch-islamischem Recht als Schutzbefohlene (ḏimmīs) und unterliegen bestimmten Regelungen, die eine späte Ausformung in den "Bedingungen 'Umars" fanden (Kap. 2, 16-38).[1]
Im zweiten und dritten einführenden Kapitel stellt Hünefeld die Grundlagen des jemenitischen Imamats dar, das der schiitisch-zaiditischen Richtung angehört (Kap. 3, 38-55), und beschreibt die jüdische Gemeinde des 19. und 20. Jahrhunderts im Verhältnis zu den jemenitischen Statusgruppen (Kap. 4, 56-73).
Die beiden letzten einführenden Kapitel sind der Darstellung der Herrschaft von Imam Yaḥyā (Kap. 5, 74-94) und der Beschreibung Rabbi Gamliels bzw. der Vorstellung seiner Quellensammlung gewidmet (Kap. 6, 95-111).
In ihrem siebten Kapitel interpretiert die Autorin die drei Beispiele (112-142), woran sich eine sehr gute Zusammenfassung anschließt (Kap. 8, 143-146), die gerne etwas ausführlicher sein könnte und die nicht nur ihre in der Einleitung formulierten Fragen zufriedenstellend beantwortet, sondern gleichzeitig neue, spannende Fragen zum Schutzverhältnis als "gesellschaftlichen Raum" (146) aufwirft. Den Abschluss der Arbeit bilden die fotomechanische Reproduktion von sieben Originaldokumenten, die Hünefeld vollständig transkribiert und ins Deutsche übersetzt (147-172), eine ausführliche Bibliographie (173-179) und schließlich ein Index (181-192).
Nach eingehender Analyse der Fallbeispiele kommt die Autorin zu folgenden Schlüssen: Die jemenitischen Juden des frühen 20. Jahrhunderts hatten Zugang zum Herrscher und konnten ihren durch das islamische Recht gewährten Schutz in konkreten Fällen einfordern. Das Relais dieser Beziehung stellte (neben anderen Personen?) Rabbi Gamliel dar, der das Vertrauen Imam Yaḥyās genoss. Auf der anderen Seite nahm Imam Yaḥyā die Gesuche immer entgegen und prüfte sie bzw. entschied zum Teil zugunsten der Juden (143).
In Bezug auf das Selbstverständnis seiner Herrschaft zeigen die Beispiele, dass Imam Yaḥyā seine Funktion als Imam immer wieder über das Gewähren von Schutz legitimierte, indem er dadurch als gerechter Herrscher auftreten konnte und indirekt geführte Angriffe auf seine Autorität begegnen konnte (144). Wie zwei der drei Beispiele zeigen, haben Imam Yaḥyās Gouverneure (regelmäßig?) versucht, dessen Macht herauszufordern, indem sie gegen Juden vorgegangen sind. Mit seinem Eingreifen zugunsten derselben konnte Imam Yaḥyā somit neben der Gewährung von Schutz für die Juden auch eigene, machtpolitische Ziele verfolgen. "Diese Überschneidung von Interessen," so schließt Hünefeld, "ist eine Erklärung dafür, warum das Schutzverhältnis zwischen Imam Yaḥyā und den Juden in Sanaa konkret funktionierte" (146).
Mit ihrer Analyse der Interaktion von Muslimen und Juden als Teile einer jemenitischen Gesellschaft trägt die Autorin unmittelbar zur Erforschung eines Bereiches bei, über den es bisher kaum wissenschaftliche Untersuchungen gibt. Allein schon diese Tatsache rechtfertigte die Veröffentlichung dieser Magisterarbeit.
Darüber hinaus weist diese Arbeit weitere Stärken auf. So sind die sehr ausgewogene Interpretation bisher noch nicht wissenschaftlich aufgearbeiteten Quellenmaterials, die sehr überzeugend wirkende Struktur und die überaus gute Lesbarkeit besonders hervorzuheben.
Jedoch wären ein Abbildungsverzeichnis der Photographien, welche die einzelnen Kapitel begleiten und gute visuelle Eindrücke von Sanaa im frühen 20. Jahrhundert bieten, und ein konsistenterer Gebrauch der wissenschaftlichen Umschrift wünschenswert gewesen. Beispielhaft sei hier auf den Namen der jemenitischen Hauptstadt verwiesen, der auf drei verschiedene Arten (Ṣan'ā' (Titelblatt), Sanaa (12), San'a (179)) in der Monographie auftaucht. Einem guten Lektor hätten solche Inkonsistenzen auffallen müssen. Auch eine Aufnahme des Lemma Sanaa in den Index wäre wegen der Bedeutung des Wortes sinnvoll gewesen.
Dieser kleinen Kritikpunkte ungeachtet, bleibt diese Monographie ein Buch, aus dem man viel über das Verhältnis von Juden und Muslimen im Jemen des frühen 20. Jahrhunderts lernen kann! Man kann schon auf Kerstin Hünefelds weitere Forschung gespannt sein!
Anmerkung:
[1] Zur Frage der Abzeichenpflicht von Juden unter islamischer Herrschaft siehe Jens J. Scheiner: Vom Gelben Flicken zum Judenstern? Genese und Applikation von Judenabzeichen im Islam und christlichen Europa (849-1941). Frankfurt 2004, 19-55.
Kerstin Hünefeld: Imām Yaḥyā Ḥamīd ad-Dīn und die Juden in Sana'a (1904-1948). Die Dimension von Schutz (Dhimma) in den Dokumenten der Sammlung des Rabbi Sālim b. Saʿīd al-Ǧamals (= Studies on Modern Yemen; Vol. 9), Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2010, 192 S., ISBN 978-3-87997-369-9, EUR 39,00
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