Unter dem Vorzeichen einer kulturgeschichtlich erweiterten Sozialgeschichte, die vor allem nach Prozessen der Vergesellschaftung und gesellschaftlichen Sinnkonstruktionen fragt, rückt seit einigen Jahren Kleidung wieder vermehrt ins Blickfeld der historischen Forschung. Auch in der Mediävistik ist gegenwärtig ein neuerliches Interesse am Thema zu verzeichnen, wovon nicht zuletzt der Umstand zeugt, dass jüngst gleich drei Qualifikationsarbeiten dazu vorgelegt worden sind. Neben der wirtschaftsgeschichtlichen Habilitationsschrift von Stephan Selzer zur Farbe Blau im Spätmittelalter [1] und der kommunikationshistorisch ausgerichteten Doktorarbeit der Verfasserin zu Kleidung an Fürstenhöfen um 1500 [2] handelt es sich dabei um die hier besprochene Habilitationsschrift von Jan Keupp.
Die Arbeit, die die Frage nach "den sozialen Spielräumen und Wirkungsweisen der Kleiderwahl" ins Zentrum der Untersuchung stellt und dabei nicht weniger als "das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft" im Mittelalter ausloten will, begreift Kleidung "[n]icht allein als Resultat sozial obligater Statuszuweisung [...], sondern ebenso als dynamisches Mittel eigensinniger Selbstverortung" (11). Unter Rückgriff auf einschlägige Theoreme der modernen Sozialforschung entfaltet Keupp aus dem weiten Panorama mittelalterlicher Quellenüberlieferung (theologische, didaktische und satirische Schriften, historiographische und poetische Texte, Gesetze und Ordnungen, Realien sowie bildliche Darstellungen auf Siegeln, Münzen und in Handschriften) im Spannungsfeld von Selbst- und Fremddeutung die verschiedensten Facetten mittelalterlicher Bekleidungspraxis für das Gebiet des Reiches zwischen dem 9. und 15. Jahrhundert.
Nachdem das Forschungsanliegen in der Einführung umsichtig vermessen worden ist, wird die Darstellung und Deutung mittelalterlicher Kleidungspraktiken in zeitgenössischen Quellen in einem Zweischritt analysiert: Im ersten Teil der Untersuchung befasst sich Keupp mit den Bedingungen und Möglichkeiten individueller Kleiderwahl in der mittelalterlichen Gesellschaft. Ausgehend von dem in der modernen Sozialforschung entwickelten Identitätskonzept, das unter Identität das sich in sozialer Kommunikation herausbildende Selbstverständnis eines Menschen versteht, verhandelt er die identitätsbildende Dimension von Kleidung für den mittelalterlichen Menschen. Indem er eine Reihe von "konsensuale[n] wie kontroverse[n] Aushandlungsprozesse[n] über den sozialen Stand einer Person" (22) auffächert, beleuchtet er nicht nur geschickt die mittelalterlichen Kleidungsgewohnheiten in ihren unterschiedlichsten Aspekten - von städtischen Normierungsbemühungen in Kleiderordnungen und der Modekritik über die kirchliche Kleidergesetzgebung und theologisch begründete vestimentäre Konflikte bis hin zu Varianten von gesellschaftliche Erwartungen unterlaufendem Kleidungsverhalten, sondern es gelingt ihm auch, Kleidung "als [bedingte] Ermöglichungsinstanz individueller Identitätsentwürfe" (139) herauszuarbeiten.
Im zweiten Teil der Arbeit konzentriert sich Keupp auf die Kleidungspraktiken der Eliten. Im Vordergrund steht hier die Kleidersymbolik von Herrschergewändern, anhand derer beispielhaft veranschaulicht wird, "in welchem Grad Kleidung als zeichenhafter Ausdruck subjektiver Geltungsansprüche im Schnittpunkt widerstreitender Sinnangebote politisch wirksam wurde" (22). Kenntnis- und detailreich wird in den Fallstudien die jeweils einschlägige Literatur zusammengetragen und vor der Folie der Quellen und der theoretischen Überlegungen reflektiert. Plausibel weist Keupp so "den herausragenden Stellenwert des Gewandes bei der Etablierung herrschaftlicher Autorität" (272) nach. Hin und wieder kann man sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein Deutungsmuster überstrapaziert und der Gang politischer Ereignisse zu einseitig aus der Bekleidungswahl der Akteure heraus erklärt wird (etwa im Falle Cola di Rienzos).
Mit dieser Studie, die das Sich-Kleiden als einen identitätsstiftenden, historisch ebenso wie situativ gebundenen Akt sozialer Kommunikation auffasst, leistet Jan Keupp zweifellos einen grundlegenden Beitrag zur kulturgeschichtlichen mediävistischen Kleidungsforschung. In einem sehr gut zu lesenden, gelegentlich allerdings stark redundanten Schreibstil, mit einem theoriegeleiteten Zugriff, aber in der Argumentation stets quellengebunden, legt er die zentrale Bedeutung von Kleidung für die soziale Verortung des Individuums - durch sich selbst und durch andere - in der mittelalterlichen Gesellschaft offen und steckt anhand von Fallstudien deren Potenzial als "wirksames Medium intersubjektiver Standortbestimmung" (33) mit all seinen Vorzügen und Chancen, aber auch Risiken und Gefahren ab. Gestützt auf einen hervorragend ausgearbeiteten Forschungsstand und mit zahlreichen - mitunter vielleicht zu vielen - Quellenzitaten angereichert, umreißt er so überzeugend das, was er als "Möglichkeitssinn" mittelalterlicher Kleiderwahl bezeichnet.
Zugleich, und darin besteht womöglich ein noch größeres Verdienst seiner Arbeit, führt Keupp exemplarisch vor, wie stark auch Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte profitieren können, wenn Mediävistinnen und Mediävisten denn einmal ihr Unbehagen gegenüber modernen Theorien ablegen. Sein Vorgehen, mittelalterliche Mechanismen und Strategien des Sich-Kleidens mit aktuellen abzugleichen, schärft nicht einfach nur den Blick für Parallelen und Unterschiede zwischen damaligem und heutigem Kleidungsverhalten, sondern zeigt, welcher Erkenntnisgewinn aus einem versierten Umgang mit modernen sozialwissenschaftlichen Theoremen gezogen werden kann, wenn man diese sinnvoll an die historischen Quellen rückbindet.
Ebenfalls im Großen und Ganzen gelungen erscheint die Entscheidung, das Thema zeitlich und geographisch breit anzugehen und mit Fallstudien zu arbeiten. Allerdings drängt sich gerade angesichts des weit gespannten Untersuchungszeitraums bei der Lektüre immer wieder die Frage nach Entwicklungen, nach Kontinuitäten und Brüchen in den Kleidungsgewohnheiten des Hoch- und Spätmittelalters auf. So mag etwa Keupps "für das mittelalterliche Königtum" formulierte These, dass "modischer Wandel keineswegs zur Steigerung der königlichen Autorität" beigetragen und "die Beteiligung des Königtums an diesem Wettbewerb modischer Distinktion die Unantastbarkeit seines Vorrangs unweigerlich beschädigt" hätte, weil "[d]ie Anpassung der herrscherlichen Garderobe an den Zeitgeschmack [...] die soziale Distanz zwischen König, Hofklientel und Großen zu verkürzen" gedroht hätte (214), für die von ihm in diesem Zusammenhang hauptsächlich betrachteten Könige des 14. Jahrhunderts gelten; für das 15. Jahrhundert trifft sie hingegen nicht ohne weiteres zu, legte doch etwa Maximilian I. durchaus wert auf einen Auftritt in modischer Kleidung. Wäre ein stärkeres Augenmerk auf Entwicklungslinien und Wandlungsprozesse gerichtet worden, hätte sich hier sicherlich ein differenzierteres Bild gewinnen lassen.
Ungeachtet der geäußerten Kritik legt Jan Keupp jedoch alles in allem ein gelungenes Buch vor, das in Zugriff und Argumentation überzeugt, die Anschlussfähigkeit der Mittelaltergeschichte an die Sozialforschung beeindruckend unter Beweis stellt und nicht zuletzt wegen seines unterhaltsamen, mitunter unkonventionellen Tons ein in der wissenschaftlichen Prosa selten anzutreffendes Lesevergnügen darstellt. Es steht zu wünschen, dass es nicht nur bei Spezialistinnen und Spezialisten für mittelalterliche Kleidung auf breite Resonanz stoßen wird.
Anmerkungen:
[1] Stephan Selzer: Blau: Ökonomie einer Farbe im spätmittelalterlichen Reich (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters; 57), Stuttgart 2010.
[2] Kirsten O. Frieling: Sehen und gesehen werden: Kleidung an Fürstenhöfen an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit (ca. 1450-1530), Diss. masch. Greifswald 2009 (Druck in Vorbereitung).
Jan Keupp: Die Wahl des Gewandes. Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters (= Mittelalter-Forschungen; Bd. 33), Ostfildern: Thorbecke 2010, X + 341 S., ISBN 978-3-7995-4285-2, EUR 52,00
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