"Diese Langeweile des unbeschäftigten, unbetätigten Glückes, die Goethe in der ersten Hälfte des ersten Bandes so trefflich dargestellt, hat er mit vieler Beobachtung in das Haus eines gebildeten Landedelmannes unserer Zeit einquartiert." [1] Dies schrieb Achim von Arnim 1809 über Goethes eben erschienenen Roman "Die Wahlverwandtschaften." Goethe hatte darin den allmählichen Zerfall einer fiktiven adeligen Familie als Symbol für die Erosion der ständischen Gesellschaftsordnung vorgeführt. Hier wie in anderen Werken zumeist bürgerlicher Autoren wurde der Adel als Repräsentant des Traditionalen beschrieben, während dem Bürgertum die Rolle der auf Veränderung drängenden Kraft vorbehalten blieb. Derartige Prämissen prägten nicht nur die zeitgenössische Diskussion, sondern wirken auch in der Historiographie bis heute fort. Sie führen zu einem sozialgeschichtlich dichotomischen Modell der grundlegenden Umbrüche um 1800, die vor allem dem Bürgertum zugeschrieben werden, während der Adel der alten Ordnung verhaftet geblieben sei.
Diesen Befund nimmt der vorliegende Band laut Einleitung (7-18) zum Anlass, einen Beitrag zur "Korrektur, Bestätigung oder vor allem Infragestellung dieses Sitten- und Funktionsbildes des Adels durch wissenschaftliche Analyse" (8) zu leisten. Es geht darum, "Kontinuitäten und Brüche in der Fremd- und Selbstwahrnehmung" (9) des Adels herauszuarbeiten und damit die Forschung für die zeitgenössischen Ideologisierungen des Adelsbegriffes zu sensibilisieren. Der Band konzentriert sich innerhalb des in der Einleitung nicht näher umgrenzten "langen" 18. Jahrhunderts auf die Habsburger Monarchie, bezieht aber auch Fallbeispiele aus der westlichen Hälfte des Alten Reiches sowie aus Großbritannien mit ein. Den zentralen historiographischen Anknüpfungspunkt bilden die Arbeiten Grete Walter-Klingensteins zur Geschichte des Absolutismus sowie des Adels in Österreich, insbesondere ihre bereits 1975 erschienene wegweisende Studie über den "Aufstieg des Hauses Kaunitz". [2]
Obwohl sich die 15 Beiträge des Bandes die Leitfrage nach den adeligen Selbst- und Fremdwahrnehmungen nicht immer explizit zu Eigen machen, lassen sich aus ihnen wertvolle Erkenntnisse zu dieser Problemstellung gewinnen. In zumeist mikrogeschichtlicher Perspektive, d.h. am Beispiel einzelner Personen oder adeliger Familien, kreisen die Beiträge nicht nur um den Aspekt der Fremd- und Selbstwahrnehmung des Adels, sondern auch um Themen wie Bildung und Karrieren, Strategien des sozialen Aufstiegs und der Statuserhaltung oder spezifisch adelige Wertvorstellungen.
Gleich im ersten Beitrag von Harm Klueting (19-30) wird am Beispiel der adelskritischen Schriften des Detmolder Superintendenten Johann Ludwig Ewald aus den 1790er Jahren deutlich, dass die strukturellen Probleme der ständischen Gesellschaftsordnung wie Rechtsungleichheit und soziale Immobilität vor allem auf den Adel und dessen Privilegien projiziert wurden. Dabei hatte sich das Selbstverständnis zumindest in Teilen des Adels unter dem Einfluss der Aufklärung bereits soweit gewandelt, dass er sich als Teil einer perspektivisch rechtsgleichen Staatsbürgernation betrachtete. Deutlich wird dies etwa an dem von Teodora Shek Brnardić analysierten Erziehungskonzept des Grafen Franz Joseph Kinský für den böhmischen Adel (61-72). In seinen 1773 und 1776 vorgelegten pädagogischen Schriften forderte Kinský eine an den Werten der Aufklärung orientierte "Nationalerziehung" (64) des Adels und leistete damit einen Beitrag zum "Projekt der Errichtung der bürgerlichen Gesellschaft." (67)
Die vermeintlich exklusiv bürgerliche Tugend des Verdienstes als Grundlage der Stellung des Individuums in der Gesellschaft hatte sich längst auch im Adel etabliert. Nach den von Franz A. J. Szabo herausgearbeiteten Adelsvorstellungen des Staatskanzlers Kaunitz (239-260) etwa war der Adel nur als (Ver-)Dienstadel legitim: Vom Adel wie von jedem anderen Staatsbürger forderte Kaunitz "merit, service and patriotism" (259) ein. Diese konzeptionelle Öffnung hatte offenbar auch mit dem Elitenwandel innerhalb des Adels durch bürgerliche oder niederadelige Aufsteiger zu tun. Der expandierende Verwaltungsstaat verband den beruflichen Erfolg in der Bürokratie in der Regel mit dem sozialen Aufstieg in den Adel. Dies zeigen etwa die sorgsam recherchierten Geschichten der Familien Mansfield in Großbritannien (Hamish Scott, 113-139) und Pergen in Österreich (William Godsey, 141-166). Die aus dem niederen schottischen Adel stammenden Grafen von Mansfield wurden im Lauf des 18. Jahrhunderts durch ihre Treue zum englischen Königshaus Teil des neu entstehenden "genuine 'British' nobility service". (139) Für die ursprünglich bürgerliche Familie Pergen eröffnete gerade die, die Privilegien des alten landständischen Adels bedrohende Reformzeit unter Maria Theresia und Joseph II. eine "Karriere in Zeiten des Umbruchs." (165) Beide Familien repräsentieren damit "a relatively new kind of higher nobility, which was becoming more numerous by the eighteenth century": "[They] rose from relatively modest beginnings in the lower nobility through prolonged and devoted service within the expanding infrastructure of the more powerful States emerging at this period, securing in return social and political status". (116)
Ähnliche Tendenzen zeigt Carlo Capra am Beispiel des Mailänder Patriziats (261-274) für die habsburgisch beherrschten Gebiete Italiens. Die rigide staatliche Modernisierungspolitik trieb hier Teile des im 18. Jahrhundert durch ihren Erfolg im Handel neu aufsteigenden Patriziats seit Beginn des 19. Jahrhunderts an die Seite der liberalen Verfechter des Risorgimento. [3]
Neben dem sozialen Aufstieg analysieren die Beiträge auch die Techniken des Statuserhalts durch etablierte Adelsfamilien. So diente der von Peter Maťa erstmals systematisch analysierte oberösterreichische Landtag (205-237) nicht nur als Medium politischer Mitsprache des dortigen Adels, sondern auch als "Feld des sozialen Ringens innerhalb des Adels um Ressourcen und Einfluss." (237) Antonio Trampus untersucht (31-42) in einem weiten Ausgriff Stammbäume als "kulturelle Praktiken", die der Adel nutzte, "um sein Selbstbewusstsein zu stärken und seine Ehre und seinen Ruhm zu vermehren." (31) Der Beitrag von János Kalmár über zwei Handschriften aus der Jugendzeit des späteren habsburgischen Kaisers Karl VI. zeigt, dass diesem vor allem die "Ahnen als Vorbilder" für seinen spezifischen Tugendkatalog dienten. Und Olga Khavanova arbeitet in ihrem Beitrag (73-88) am Beispiel des Grafen Joseph Károlyi die spezifischen Elemente adeliger Bildung heraus, deren Ziel neben der Aneignung von Wissen der Erwerb von "markers of social exclusivity" (74) war.
Der vorliegende Band schließt damit an die Ergebnisse der jüngeren Adelsforschung zu Themen wie Bildung, Karrieren oder Formen adeliger Repräsentation an. [4] Neu hingegen ist die Verknüpfung mit der Frage nach dem Wandel adeliger Selbst- und Fremdwahrnehmungen und deren Auswirkungen auf die spätere Historiographie. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn die Beiträge an der einen oder anderen Stelle diesen in der Einleitung angedeuteten Bogen von ihrem Thema aus noch konsequenter geschlagen hätten. Auch hätte der Band womöglich von einer stärkeren Rezeption der in der Adelsforschung seit einiger Zeit, jedoch mit Blick auf das 19. Jahrhundert, diskutierten Kategorien wie "Adeligkeit" oder "Obenbleiben" profitiert. [5] Insgesamt bildet der Band jedoch zweifellos einen weiterführenden Beitrag zur aktuellen Adelsgeschichte, der nicht nur neue Einsichten für das "lange" 18. Jahrhundert bereithält, sondern auch dazu beiträgt, den seit dem 19. Jahrhundert durch genuin bürgerliche Deutungsmuster überformten Blick auf den Adel zu differenzieren.
Anmerkungen:
[1] Achim von Arnim an Bettina Brentano. 5.11.1809, in: Ursula Ritzenhoff (Hg.): Johann Wolfgang Goethe 'Die Wahlverwandtschaften.' Erläuterungen und Dokumente, 2. Aufl., Stuttgart 2004, 126.
[2] Grete Klingenstein: Der Aufstieg des Hauses Kaunitz. Studien zur Herkunft und Bildung des Staatskanzlers Wenzel Anton. (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; Bd. 12), Göttingen 1975.
[3] Vgl. mit ähnlichen Ergebnissen für das Großherzogtum Toskana: Thomas Kroll: Die Revolte des Patriziats. Der toskanische Adelsliberalismus im Risorgimento (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom; Bd. 90), Tübingen 1999.
[4] Vgl. u.a. Ivo Cerman / Luboš Velek (Hgg.): Adelige Ausbildung. Die Herausforderung der Aufklärung und die Folgen, München 2006.
[5] Vgl. u.a. Ewald Frie: Adelsgeschichte des 19. Jahrhunderts? Eine Skizze, in: Ronald G. Asch / Rudolf Schlögl (Hgg.): Adel in der Neuzeit, Göttingen 2007, 398-415.
Gabriele Haug-Moritz / Hans Peter Hye / Marlies Raffler (Hgg.): Adel im "langen" 18. Jahrhundert (= Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Historische Kommission. Zentraleuropa-Studien; Bd. 14), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2009, 324 S., ISBN 978-3-7001-6759-4, EUR 49,00
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