Die empirische Forschung scheint es in der Geschichtsdidaktik nicht leicht zu haben. Das legt zumindest der Sammelband "Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 09" nahe. In der Einleitung skizzieren die Herausgeber Jan Hodel und Béatrice Ziegler die von Wolfgang Hasberg erhobene Kritik, "dass die Gemeinschaft empirischer Forscherinnen und Forscher in der Geschichtsdidaktik" nicht wisse, "wie die Forschung geordnet und gegliedert werden könnte, wie eine solche Forschung methodisch und theoretisch sinnvoll ausgerichtet und gestaltet werden soll und wie die gewonnenen Erkenntnisse in neue Forschungsprojekte, in die Theoriebildung und Praxis einfliessen sollen." (10) Der aus den über 30 Beiträgen einer Basler Tagung von 2009 hervorgegangene Band ist folgerichtig durch den Versuch gerahmt, dieser vermeintlichen Unordnung Herr zu werden und der empirischen Forschung den Weg zu weisen. Hodel und Ziegler schlagen als "Strategie, um zu mehr Kohärenz zu gelangen [...] eine stärkere Ausrichtung auf die intentionalen Lehr-Lernprozesse" (13) vor. Auch zwei Schlussbetrachtungen kommentieren die Tagung in wegweisender Absicht. Hilke Günther- Arndt mahnt, dass der "jeweilige Nutzen für die Praxis des Geschichtsunterrichtes [...] künftig [...] stärker herausgearbeitet werden" (316) sollte. Methodisch hält Günther-Arndt "Interventionsstudien mit kontrollierten Inputs und der Messung ihrer Wirkung" für besonders geeignet, um "Ursachen für Veränderungen plausibel zu erklären" (313). In seinen Schlussbetrachtungen gibt Bodo v. Borries eine "pragmatische Checkliste" (318) an die Hand, gleichsam als Selbstevaluation möglicher Forschungsvorhaben. Für ihn ist die "lehrerfreundliche und praxisrelevante Befunddarstellung" ebenfalls eines von acht Kriterien, an der zukünftige empirische Forschung sich auszurichten habe. Praxisrelevanz ist offenbar nicht schon alleine dadurch gegeben, dass sich empirische Forschung auf Unterrichtspraxis bezieht. Allerdings bleiben die Forderungen ziemlich vage, was darüber hinaus geleistet werden soll. Soll eine "lehrerfreundliche Befunddarstellung" ebenfalls in eine Checkliste münden?
Ein Blick in einzelne Beiträge des Sammelbandes selbst zeigt, dass Forderungen nach mehr Praxisrelevanz und mehr Kohärenz der Forschungsvorhaben unbegründet sind, bzw. hinter den schon erreichten Forschungsstand zurückfallen. So analysieren Bernhard C. Schär und Vera Sperisen in ihrem Beitrag den "Eigensinn von Lehrpersonen mit Lehrbüchern" (124). Ihr Fallbeispiel zeigt, "dass Lehrpersonen sowohl den Inhalt wie auch das didaktische Konzept von Lehrmitteln anhand eigener Vorstellungen sehr stark formen und verändern können." (133) Als Konsequenz schlussfolgern sie: "Lehrpersonen sollten daher weniger als Vollstrecker sondern vielmehr als Interpretinnen einer Lehrbuchprogrammatik gesehen werden - wobei die Vielfalt der Interpretationen und Inszenierungen groß ist." (133) Dieser Befund sollte zu denken geben: Was ist eigentlich mit der Ausrufung weiterer didaktischer Programmatiken gewonnen, wie lehrerfreundlich auch immer sie dargestellt werden mögen, wenn gerade die Praxis zeigt, dass eine Eins-zu-Eins-Übersetzung überhaupt nicht konstitutiv für das Lehrerhandeln ist? Eine ähnliche Beobachtung machen Monika Waldis, Corinne Wyss und Jan Hodel, die "Ergebnisse aus dem Projekt »Erweiterung professioneller Handlungskompetenzen von Geschichtslehrpersonen« im Hinblick auf die "Wirksamkeit einer Lehrerweiterbildung mit Unterrichtsvideos" (93) vorstellen. "Eine zentrale Erkenntnis des hier vorgestellten Interventionsprojektes liegt darin, dass das Kursangebot individuell sehr unterschiedlich aufgenommen und verarbeitet wurde" (102). Als genauso vielfältig entpuppen sich Schülervorstellungen, die Daniel Eisenmenger und Stefanie Serwuschok in jeweils eigenen Beiträgen zum "Konzept von Nation" (172) bzw. zu "Ausprägungen historischer Kompetenzen bei Grundschülern" (183) vorstellen. Eine theoretisch und methodisch einheitliche Ausrichtung der Forschung, wie sie im Sammelband immer wieder zumindest für die Zukunft beschworen wird, droht komplexe Zusammenhänge zu nivellieren. Eisenmenger und Serwuschok erforschen mit "unterschiedlichen theoretischen Bezugsrahmen" "Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Stufen" (169). Eisenmenger fragt nach dem Vermittlungsproblem eines zentralen Begriffs der Fachwissenschaft (Nation) im Unterricht. Um nachzuvollziehen, mit welchen Konzepten sich die Schüler einem solchen Begriff nähern, bieten sich folgerichtig Methoden der rekonstruktiven Sozialwissenschaft an. Serwuschok operiert dagegen mit dem fertigen Kompetenzstrukturmodell der FUER Gruppe und will "mögliche Ansatzpunkte für einen kompetenzorientierten Unterricht zeigen" (184). Den unterschiedlichen methodischen Vorgehen liegen jeweils unterschiedliche Sichtweisen auf Unterricht zugrunde.
Auch wenn nicht wenige Autoren der Basler Forschungswerkstatt erst am Anfang ihrer Projekte stehen und über Skizzen hinaus noch keine fertigen Analysen aufbieten können, so wäre es doch kontraproduktiv, diesen Wettbewerb vieler guter Ideen schon im Voraus unter eine Einheitsforschung zu subsumieren. Der Band leistet eine weit gefächerte Schau verschiedener Schwerpunkte der empirisch-geschichtsdidaktischen Forschung. Die durch eine kurze Synopse der Tagungs-Moderatoren eingeleiteten Sektionen umfassen außerschulische Lernorte, Kompetenzen, Historische Identität, Medien⁄Sprache, Schülervorstellungen und den Geschichtsunterricht (auch den bilingualen). Abgerundet wird die Forschungswerkstatt durch internationale Beiträge aus der französischsprachigen Schweiz sowie eine Keynote des kanadischen Geschichtsdidaktikers Peter Seixas. Es scheint mir nicht gerechtfertigt die in der Publikation zum Ausdruck gebrachte Pluralität lediglich als ein nicht abzuwendendes Übel zu charakterisieren. "Wir müssen mit dem Nebeneinander von sehr engen (»reduktionistischen«, aber »harten«) und sehr weiten (»generalisierenden«, aber »weichen«) Ansätzen leben und dabei, auch wenn es schwer fällt, Toleranz üben. Das ist der Preis einer jungen Wissenschaft." (von Borries, 320) Warum gilt für die Forschung nicht das, was Axel Becker für die Urteilsbildung im Schulunterricht vorschlägt, wonach "Orientierung zu geben" nur heißen könne "die verschiedenen Richtungen zu zeigen, jedoch nicht den Weg. [...] Wir können diese Vielfalt als Bereicherung unserer Erkenntnis begreifen und nicht als Bedrohung." (280f.) Die Orientierung, die Geschichtsdidaktiker Lehrern zu geben vermögen, kann nicht anders sein, zumal beispielsweise Waldis, Wyss und Hodel die "produktive Bearbeitung des Themas Kompetenzförderung" in Abhängigkeit von "persönlichen Entwicklungsbedürfnissen" sowie der "persönlichen Berufssituation" (102) der Lehrer sehen.
Damit stellen sich Bildungsprozesse in Schule wie Lehrerfortbildungen als individuelle Auseinandersetzung mit und als in Beziehung setzen zu einem Gegenstand dar. Interventionsstudien, die Unterricht als an jedem Ort, zu jeder Zeit von jeder Lehrkraft wiederholbares Experiment voraussetzen, können dem individuellen und sachbezogenen Kern des Lernens kaum gerecht werden - und dies ist vielleicht die größte Herausforderung im Unterricht. Überhaupt ist grundsätzlich zu fragen, welchem Wissenschaftsparadigma sich die empirische Forschung der Geschichtsdidaktik eigentlich verpflichtet fühlt, wenn sie als Maßstab ihrer Forschung deren nutzbringende Anwendung proklamiert. Die Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis im Weberschen Sinne ist jedenfalls in Gefahr, wenn empirische Wissenschaft lehren will, was Lehrer und Schüler sollen, und nicht mehr nur das, was sie können und - unter Umständen - was sie wollen.
Jan Hodel / Béatrice Ziegler (Hgg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 09. Beiträge zur Tagung "geschichtsdidaktik empirisch 09", Bern: hep Verlag 2011, 341 S., ISBN 978-3-03905-582-1, CHF 44,00
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