sehepunkte 11 (2011), Nr. 10

Heiner Lück / Enno Bünz / Leonhard Helten u.a. (Hgg.): Das ernestinische Wittenberg

Der vorliegende Band umfasst 19 Beiträge eines 2009 durchgeführten Kolloquiums, das sich unter Beteiligung von Mitarbeitern der Universitäten Berlin (TU), Halle(-Wittenberg) und Leipzig als erster Teil eines größeren Forschungsprojektes mit der Geschichte, bildenden Kunst und Architektur Wittenbergs der frühen Renaissancezeit beschäftigt hat.

Heiner Lück gibt nach einem kurzen Überblick über die Genese des Projektes eine Einführung zur Verbindung von Universitätsgeschichte und Stadtgeschichte, um daraus zehn "Leitfragen" für die Untersuchung Wittenbergs abzuleiten.

Heinz Schilling schildert in seinem Beitrag über Urbanisierung und Reformation den Entwicklungsschub sächsischer Städte und den Ausbau Wittenbergs auf historischer Grundlage. Etliche Angaben sind aber stark verkürzt und spekulativ, wie etwa der pauschal übernommene Hinweis auf die angebliche Beteiligung de' Barbaris, Dürers und Riemenschneiders beim Schloss in Wittenberg (22).

Eine kurze Einführung über das "Stadtbild und Sakraltopographie von Wittenberg als Forschungsgegenstände" gibt der Landeshistoriker Enno Bünz. Ausführlicher widmet sich Elgin von Gaisberg den historischen Stadtansichten und Stadtplänen Wittenbergs.

Antje J. Gornik behandelt Stadt und Kirche im mittelalterlichen Wittenberg unter vornehmlich historischen Gesichtspunkten und Katja Pürschel stellt "die kirchlichen Ausstattungsensembles des Altkreises Wittenberg" vor.

Offenen Fragen zu Residenz und Stadt Wittenberg widmet sich Leonhard Helten, der zunächst über das Verhältnis der Begriffe Burg und Schloss diskutiert, was allerdings durch die Tagung "Die Burg" im Frühjahr 2009 [1] obsolet geworden ist.

Anke Neugebauer geht ausführlicher auf Forschungen und Perspektiven zur Residenz ein. Zunächst würdigt sie die Publikation zu den Baudenkmälern in Wittenberg [2] als grundlegend, eine Einschätzung, die man eigentlich schon im ersten Beitrag des Bandes erwartet hätte. Ähnlich Helten behandelt sie sodann die Bezeichnung Burg und Schloss, hält aber noch an der früheren Auffassung fest, dass das Schloss Wittenberg auf Wehrhaftigkeit weitgehend verzichtet und den Übergang von der Burg zum Schloss bildet, angesichts der flankierenden Ecktürme ist Letzteres allerdings nicht ganz nachvollziehbar.

Ihr Hinweis auf die Beteiligung von Cranach d. Ä. und Albrecht Dürer ist wenig glücklich formuliert. Die von Anke Neugebauer angegebenen Literaturhinweise beziehen sich, insbesondere bei Dürer, nicht auf eine Beteiligung am Bau des Wittenberger Schlosses, weil dieses schlichtweg auch gar nicht nachgewiesen ist. Besser wäre es gewesen, darauf hinzuweisen, wer diese These aufgebracht und wer sie zurückgewiesen hat. Für die Behauptung, dass Lucas Cranach welsche Giebel für das Schloss entworfen habe (86), hätte man sich gerne einen Nachweis gewünscht; der Hinweis, dass dies "oft zitiert" wird (also wohl: oft abgeschrieben), ist keine befriedigende Aussage. Weitaus nachvollziehbarer sind Neugebauers Hinweise zu dem Bildhauer Claus Heffner.

Mit dem Thema "Der Kurfürst zu Besuch in seiner Residenz: Nutzung und Ausbau der Wittenberger Residenz in der Zeit von 1485 - 1510" setzt sich Thomas Lang auseinander.

Mit Ulrike Ludwig liefert eine weitere Historikerin einen soliden Beitrag, hier über die "Universitätsgebäude von der Gründung der Leucorea 1502 bis zum Jahre 1547". Die strikte Gliederung in Fragestellung und Methodik, Quellenlage, Forschungsstand und Ergebnisse ist beispielhaft und hätte sich für die meisten Beiträge empfohlen.

Die Kunsthistorikerin Insa Christiane Hennen bemüht sich, im Kapitel "Universität und Stadt: Einwohner, Verdichtungsprozesse, Wohnhäuser" Licht in die verworrenen Grundstücksverhältnisse Wittenbergs zu bringen. Verwirrend erschien ihr schon die fünf Zeilen lange Zusammenfassung der Besitzergeschichte zum Haus Markt 4 [3] seitens des Rezensenten; es dürfte empfehlenswert sein, die fraglos sehr interessanten Thesen Hennens zu den Grundstücken am Markt noch einmal durch einen aktenerfahrenen Historiker überprüfen zu lassen. Die Hypothese, dass Cranach 1521 nicht das 1518 aufgegebene Haus Markt 4 zurückerworben, sondern das Nachbarhaus Markt 5 gekauft habe, funktioniert nur, wenn man (144) davon ausgeht, dass das Schosz-Register nachträglich falsch nummeriert wurde. Wenn sich dies verifizieren lässt, müsste man in Wittenberg von einem vierten Cranach-Haus ausgehen, Monika Lücke hatte bisher drei Häuser dokumentiert, darunter das Haus mit der Cranach-Werkstatt, Schlossstr. 1, das zeitweilig im investiven Besitz Cranachs befindliche Haus Markt 4 sowie ein kleineres Haus am Rande der Altstadt.

Hans Georg Stephan stellt Archäologie, Alltagskultur und Stadtforschung vor, insbesondere mit interessanten Funden zur Ofenkeramik; Ralf Kluttig-Altmann geht auf "Baukeramik aus Wittenberger Grabungen" ein.

Dorothée Sack liefert eine kurze Einführung in die Bauforschung, allerdings am Beispiel von Strausberg und Damaskus, wobei sie zudem die kritische neuere Literatur zur Bauforschung weitgehend ausblendet, obwohl sie an den Diskussionen sogar beteiligt war [4].

Als besonders aktueller und für die Forschung neuer Aspekt dürfte die Kellerforschung in Wittenberg zu sehen sein, die von Antonia Brauchle und Isabelle Frase vorgestellt wird. Der Rezensent war bei der Untersuchung des Hauses Markt 6 zu dem Ergebnis gekommen, dass Abweichungen des Kellergrundrisses gegenüber dem Erdgeschoss für eine frühere Entstehung sprechen. Bei den jetzt in einer Reihenuntersuchung erfassten Kellern ergibt sich durch den Abgleich mit den Stadtplänen des 17. und 18. Jahrhunderts eine Chance, weitaus mehr ältere Kelleranlagen zu identifizieren.

Exemplarisch behandeln zwei Aufsätze das Haus Markt 3. Hier bot sich die Gelegenheit, die These der Verbindung der beiden Häuser (aus der Publikation "Cranach und die Cranachhöfe", 1998, s.o.) näher zu untersuchen. Auch wenn ein abschließendes Ergebnis noch aussteht, zeigen viele Einzelbefunde eine ungewöhnlich enge Verzahnung der beiden Grundstücke. Der in diesem Zusammenhang abgebildete Kupferstich (Martin Luthers als Heiliger Hieronymus im Gehäus von Wolfgang Stuber, um 1580, hier 190) stellt allerdings nur eine seitenverkehrte Kopie des Hieronymus-Stiches von Albrecht Dürer dar und hat für Wittenberger Wohnräume sicher kaum einen Quellenwert. Ergänzt wird der Beitrag durch einen Artikel "Zu den Wandinschriften im Haus Markt 3" von Franz Jäger.

Holger Niewisch behandelt abschließend die "Dachkonstruktionen in Wittenberg: Ergebnis einer ersten dendrochronologischen Kampagne". Der Beitrag ist allerdings sehr stark verkürzt und mit einer überflüssigen Einführung zur Dendrochronologie überlastet. Erst aus einem Nebensatz erfährt man, dass die Datierung der Bohrkerne Karl-Uwe Heußner vom Deutschen Archäologischen Institut in Berlin vornahm, und damit ist auch klar, dass mit der "ersten dendrochronologischen Kampagne" nicht die rezenten Bohrungen Niewischs, sondern die Untersuchungen Heußners in den frühen 1990er-Jahren gemeint sein müssen, seinerzeit durch den Architekten und Diplomrestaurator K. Schreinert beauftragt. Erstaunlich ist auch, dass Niewisch bei seinen Substanzuntersuchungen 1993, 1994 und 1996 das Erdgeschoß des Hauses Markt 6 völlig entkernt vorfand. Der Rezensent hat bei seiner eigenen Bauuntersuchung von Markt 6 1994 im Erdgeschoß noch Teile der Substanz des 16. Jahrhunderts feststellen können, sodass es gelungen war, Fragen zu klären, die bei den beiden Cranachhöfen nicht klärbar waren. Nur die marktseitige Hälfte des Erdgeschosses war tatsächlich ausgeräumt.

Was ist nun das Fazit des vorliegenden Bandes? Ohne jede Frage ist Wittenberg ein überaus lohnendes Ziel für interdisziplinäre Forschung. Das Projekt der Leucorea-Stiftung bietet dazu grundsätzlich einen guten Ansatz. Viele der Beiträge im besprochenen Band weisen ja auf künftige Forschungen hin, manche sind bereits mit sehr interessanten Inhalten untermauert. Grundsätzlich darf man sich allerdings ein höheres Maß an Gründlichkeit und Solidität wünschen. Bauforschung ist die Verbindung von Technik und Geisteswissenschaften, dazu gehören auch fachhistorische Recherchen. Paul Mannewitz beispielsweise, der 1914 eine wichtige Dissertation über das Bürgerhaus in Wittenberg [5] schrieb, wird von keinem der einschlägigen Beiträge zitiert oder gar diskutiert. Der Bau- und Kunstdenkmälerband mit den lesenswerten Beiträgen von Roland Werner wird von den Historikern als grundlegend erkannt, von den Bauhistorikern nur peripher erwähnt. Dagegen haben einige der historischen Nachwuchswissenschaftler des Projektes mit ihrer strikten Gliederung gezeigt, wie man solche Aufsätze systematisch erarbeiten kann, diese Arbeitsweise könnte das Vorbild für die gesamte Forschergruppe sein.


Anmerkungen:

[1] G. Ulrich Großmann / Hans Ottomeyer (Hgg.): "Die Burg". Wiss. Begleitband zu den Ausstellungen "Burg und Herrschaft" und "Mythos Burg", Dresden 2010

[2] Die Denkmale der Lutherstadt Wittenberg, bearbeitet von Fritz Bellmann / Marie-Luise Harksen / Roland Werner, Weimar 1979.

[3] Lucas Cranach d. Ä. und die Cranachhöfe in Wittenberg, hg. von der Cranach-Stiftung, Halle 1998.

[4] Johannes Cramer / Dirk Schumann (Hgg.): Bauforschung, eine kritische Revision, Berlin 2005.

[5] Paul Mannewitz: Das Wittenberger und Torgauer Bürgerhaus vor dem Dreißigjährigen Krieg, Borna-Leipzig 1914.

Rezension über:

Heiner Lück / Enno Bünz / Leonhard Helten u.a. (Hgg.): Das ernestinische Wittenberg. Universität und Stadt (1486 - 1547) (= Wittenberg-Forschungen; Bd. 1), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2011, 276 S., 155 s/w- und 92 Farbabb., 5 Pläne, ISBN 978-3-86568-270-3, EUR 48,00

Rezension von:
G. Ulrich Großmann
Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
Empfohlene Zitierweise:
G. Ulrich Großmann: Rezension von: Heiner Lück / Enno Bünz / Leonhard Helten u.a. (Hgg.): Das ernestinische Wittenberg. Universität und Stadt (1486 - 1547), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 10 [15.10.2011], URL: https://www.sehepunkte.de/2011/10/20335.html


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