Die "Krieg-in-Sicht"-Krise vom Frühjahr 1875 zieht jüngst verstärkt das Interesse der Geschichtswissenschaft auf sich: Nachdem im Jahre 2009 die lesenswerte Mainzer Dissertation von Johannes Janorschke [1] erschienen ist, legt nunmehr James Stone, der bereits in der ersten Hälfte der 1990er Jahre mit diversen einschlägigen Aufsätzen hervorgetreten ist, eine umfangreiche Monographie zur Thematik vor. Bei diesem Werk handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung der Marburger Doktorarbeit des Autors, die ihrerseits das Ergebnis einer mehr als zwei Dekaden währenden Beschäftigung mit der Materie darstellt. Während dieses langen Forschungsprozesses hat der Autor nicht nur eine Vielzahl gedruckter Quellen gründlich ausgewertet, sondern auch unveröffentlichtes Material in mehr als zwanzig Archiven in Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika gesichtet. Zu seinen wichtigsten Quellenfunden zählt dabei die auf russischen Archivalien basierende Abhandlung des Historikers und Archivars Sergei Goriainov, welche Stone im Institut National d`études slaves in Paris entdeckt hat.
Gestützt auf eine solchermaßen breite Quellenbasis geht es dem Autor um die Beantwortung der zentralen, bis heute gleichwohl umstrittenen Frage nach den Motiven Bismarcks im Zusammenhang mit der Krise von 1875. Um dieses Problem zu lösen, wählt Stone sowohl chronologisch als auch hinsichtlich der berücksichtigten Staaten einen breiten Ansatz: Indem er die "war scare of 1875" in eine umfassende Betrachtung der Bismarckschen Außenpolitik der Jahre 1873 bis 1877 einordnet, welche neben den prominent thematisierten Beziehungen zu Frankreich vor allem diejenigen zum Zarenreich und zu den französischen Nachbarstaaten Belgien, Spanien und Italien berücksichtigt, vermag Stone Ziele und Vorgehen des deutschen Reichskanzlers in längere Entwicklungslinien einzuordnen und auf diesem Wege auch Aussagen über Kontinuität und Wandel zu treffen. Eine Gesamtdarstellung der Krise im Sinne einer möglichst vollständigen Untersuchung der Politik aller darin verwickelten Großmächte, wie sie jüngst Janorschke unternommen hat, strebt der Autor hingegen nicht an.
Mit Stones Herangehensweise korrespondiert auch der Aufbau der Studie: Nach einer lesenswerten Darstellung der Forschungsgeschichte zur Krise (Kapitel I) und einer Schilderung des außen- und innenpolitischen Kontextes der deutschen Außenpolitik nach der Reichsgründung (Kapitel II) spürt Stone zunächst den diversen Bedrohungen respektive den diesbezüglichen deutschen Reaktionen nach, welche sich in den Augen des Eisernen Kanzlers 1873/74 im internationalen Terrain ergaben (Kapitel III). Anschließend werden sodann Vorgeschichte und Geschichte der "Krieg-in-Sicht"-Krise selbst - einschließlich der Mission Radowitz - ausführlich dargestellt (Kapitel IV und V). Mit knapp 200 Seiten bilden diese Abschnitte auch quantitativ das eigentliche Herzstück der Arbeit. Eine knappe Darstellung wichtiger Aktionsfelder der deutschen Außenpolitik der Jahre 1875 bis 1877 rundet die Studie ab (Kapitel VI).
Was die zentralen Befunde der Untersuchung anbetrifft, so können an dieser Stelle nur die wichtigsten skizziert werden. Von herausgehobener Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Bismarcks Vorgehen im Kontext der "Krieg-in-Sicht"-Krise Stone zufolge nicht isoliert interpretiert werden darf; vielmehr stellt dasselbe in den Augen des Autors "part of longer-term strategies to secure the position of the new German Empire in Europe" (339) dar. Im Gegensatz zu Janorschke führt Stone die Veröffentlichung der "Alarmartikel" der Kölnischen Zeitung (5.4.1875) und der Post (9.4.1875) zweifelsfrei auf Bismarck zurück, der die internationale Krise dadurch erst ausgelöst habe. Als "key motive" (339) stellt der Autor dabei eine Komponente heraus, die seiner Ansicht zufolge für die Gestaltung der deutschen Außenpolitik in der Mitte der 1870er Jahre insgesamt große Bedeutung beanspruchen kann: die Unterstützung der republikanischen Kräfte in Frankreich respektive die Verhinderung einer Rückkehr des französischen Nachbarn zur Monarchie, wie sie seit dem Rücktritt Thiers im Frühjahr 1873 und der Präsidentschaft des als antirepublikanisch geltenden Marschall MacMahon von Bismarck befürchtet wurde. Bedrohlich habe eine solche Entwicklung für den Reichskanzler vor allem aus außenpolitischen Gründen gewirkt, hätte doch ein wieder erstarktes monarchisches Frankreich in St. Petersburg und Wien rasch mächtige Verbündete finden können. Um die französische Innenpolitik im deutschen Interesse zu beeinflussen und zudem den ebenfalls gefährdet erscheinenden Dualismus in der Habsburger Monarchie zu stabilisieren, habe Bismarck die Krise des Jahres 1875 heraufbeschworen. Ähnliche Beweggründe sieht Stone auch hinter Bismarcks Vorgehen in den deutsch-französischen Krisen der Jahre 1873/74 und 1877 sowie hinter seiner damaligen Politik gegenüber den französischen Nachbarstaaten, welche mit ausdrücklichem Bezug auf George F. Kennan als systematische "Containment"-Strategie bezeichnet wird. Angesichts dieser Befunde widerspricht der Autor auch allen Interpretationen der "Krieg-in-Sicht"-Krise als eines Wendepunktes der deutschen Außenpolitik, wie sie wirkmächtig etwa von Andreas Hillgruber [2] vertreten worden ist.
Alles in allem hat James Stone ein kraftvolles Buch geschrieben, mit dessen ganz aus den Quellen erarbeiteten Ergebnissen sich zukünftige Forschungen intensiv auseinanderzusetzen haben werden. Dass hingegen das Rätsel um Bismarcks Motivation nunmehr gelüftet ist, wie der Autor im Schlusskapitel selbstbewusst formuliert, möchte der Rezensent bezweifeln. Dafür hätte es an entscheidenden Stellen (etwa im Zusammenhang mit der Autorschaft der "Alarmartikel" oder der Interpretation der Mission Radowitz) einer intensiveren Auseinandersetzung mit abweichenden Interpretationen anderer Autoren bedurft, als Stone sie vorgenommen hat. Zudem hätte sich der Rezensent angesichts der großen Bedeutung, welchen Bismarcks Perzeptionen für die Gesamtinterpretation der Studie zukommt, eine systematische, alle relevanten (innen- und außenpolitischen sowie militärischen) Aspekte berücksichtigende Analyse zumindest der Frankreich- und Österreichbilder des Reichskanzlers gewünscht. Eine solche Betrachtung hätte nicht zuletzt dazu beitragen können, den von Stone prominent herausgestellten Zusammenhang zwischen der innenpolitischen Situation in beiden Staaten einerseits und der deutschen Außenpolitik andererseits noch plausibler darzulegen. Diese Kritikpunkte sollen indes nicht den Blick auf die Tatsache verstellen, dass James Stone ein zweifelsohne wichtiges Werk vorgelegt hat, das unser Wissen über die Krise von 1875 im Speziellen wie auch über die deutsche Außenpolitik in der Mitte der 1870er Jahre im Allgemeinen erkennbar erweitert.
Anmerkungen:
[1] Johannes Janorschke: Bismarck. Europa und die "Krieg-in-Sicht"-Krise von 1875 (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 11), Paderborn 2010. Siehe hierzu die Rezension unter:. http://www.sehepunkte.de/2011/01/16177.html
[2] Vgl. z. B. Andreas Hillgruber: Die "Krieg-in-Sicht"-Krise 1875 - Wegscheide der Politik der europäischen Großmächte in der späten Bismarck-Zeit, in: Ernst Schulin (Hg.): Gedenkschrift Martin Göring. Studien zur europäischen Geschichte, München 1968. 239-253.
James Stone: The War Scare of 1875. Bismarck and Europe in the Mid-1870s (= HMRG. Historische Mitteilungen im Auftrage der Ranke-Gesellschaft; Bd. 79), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010, 385 S., ISBN 978-3-515-09634-8, EUR 70,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.