sehepunkte 12 (2012), Nr. 2

Frank Joestel (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1988

Im turbulenten letzten Jahrfünft der DDR nimmt das Jahr 1988 eine besondere Stellung ein. Das SED-Regime geriet sowohl von außen als auch von innen weiter unter Druck. Risse im Verhältnis zwischen Moskau und Ost-Berlin zeigten sich zum Beispiel in den laufenden KSZE-Verhandlungen: Regelrecht gefürchtet wurde in der SED die sowjetische Bereitschaft zu Zugeständnissen in humanitären Fragen. Diese Angst war eng mit der innenpolitischen Lage in der DDR verknüpft: Noch nie zuvor gab es so viele Menschen, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten - 1988 waren es insgesamt über 113 000 gewesen. Immer häufiger befreiten sich Ausreiseantragsteller aus ihrer gesellschaftlichen Isolierung, indem sie sich zu Gruppen zusammenschlossen und in die Öffentlichkeit gingen. So auch bei der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration vom 17. Januar 1988, die eine Verhaftungswelle sowohl unter Ausreiseantragstellern als auch Oppositionellen, wie Freya Klier und Stephan Krawczyk, auslöste. Viele Ostdeutsche gingen infolgedessen aus Protest auf die Straße. 1988 sah sich das SED-Regime immer häufiger solch öffentlicher Kritik ausgesetzt.

Diesem Jahr der DDR-Geschichte widmet sich der vorliegende Band. Es handelt sich um den zweiten Band aus der Editionsreihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) zu den Berichten der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) für die SED-Parteiführung. Die Reihe erscheint in einem modernen Format: Nur ein Teil der edierten Dokumente ist abgedruckt, während eine beiliegende CD alle Dokumente in einer Datenbank erfasst. Die Benutzeroberfläche der Datenbank ist einfach zu bedienen. Sie ermöglicht die Suche nach verschiedenen Kriterien. Der Band enthält darüber hinaus ein chronologisches Dokumentenverzeichnis, das auch Aufschluss darüber gibt, welche Dokumente gedruckt und welche ausschließlich digital vorliegen. Ein Sach- und Personenregister ist nicht enthalten, würde aber eine sehr nützliche Ergänzung zu den digitalen Recherchemöglichkeiten darstellen. Die von Siegfried Suckut für den Band zu 1976 erstellte tabellarische Aufstellung zur thematischen Verteilung der Informationen war sehr nützlich, da sie einen äußerst schnellen Zugriff auf die einzelnen Themengebiete ermöglichte. Durch eine ähnliche Tabelle hätte der vorliegende Band noch zusätzlich gewonnen.

Wie schon im ersten Band, gibt Reihenherausgeberin Daniela Münkel kurz grundlegende Hinweise zur Geschichte der geheimen Berichterstattung des MfS an die SED-Führung sowie zu Funktion und Aufbau der Berichte. Sie weist dabei auf deren ambivalenten Quellenwert hin: Die vom MfS verfassten Berichte sollten die Parteiführung über "politisch abweichendes Verhalten und sicherheitsrelevante Probleme" informieren und umfassten daher ein alle wichtige gesellschaftliche Bereiche betreffendes Themenspektrum. Zugleich durften die Berichte jedoch keinerlei Zweifel an der ideologischen Ergebenheit des MfS aufkommen lassen; eine Prämisse, die eine ungeschminkte Berichterstattung zwangsläufig verhinderte.

Für den Band wurden 279 Berichte der ZAIG ediert, die sich auf innenpolitische Themen beziehen. Ausgenommen sind nach wie vor die Berichte der HVA, die ohnehin nur sehr selten ihrer Vernichtung durch MfS-Angehörige entgangen sind. Besonders häufig wurden Informationen an Erich Honecker geschickt. Er erhielt 84 Berichte der ZAIG. Auch die Politbüromitglieder Krenz, Jarowinsky, Schabowski, und Herrmann zählten zu den Empfängern. Wie auch im ersten Band, wurden die ZAIG-Informationen knapp kommentiert. Erläutert werden vor allem "Ereignisse und Sachverhalte", ergänzt um sehr nützliche Hinweise auf weiterführende Literatur (60). Einerseits führt dies zu einem leserfreundlichen, schlanken Format der Edition. Zu bedenken wäre andererseits, dass sich die Edition nicht nur an Fach-, sondern, bedingt durch den politischen Bildungsauftrag der BStU, auch an interessierte Laien richtet. Eine ausführlichere Kommentierung wäre daher unter Umständen überlegenswert, um die "grundsätzlich tendenziös[e]" und "nicht selten auch mit Halbwahrheiten" (7) versehene Berichterstattung des MfS auszugleichen.

Frank Joestel analysiert als Bearbeiter des ZAIG-Bandes für das Jahr 1988 die Informationen des MfS an die Parteiführung. Zu deren Merkmalen gehöre, dass sie meist "monothematisch und stark ereignisbezogen" gewesen seien. Zwar gab es eine periodische Berichterstattung zum Zwangsumtausch und zum West-Ost Reiseverkehr, zu den meisten Themen wurden allerdings Einzelberichte erstellt. Sie behandelten Ereignisse, die das MfS als "im weitesten Sinne als sicherheitspolitisch relevant" erachtete (29). Die aus Sicht des MfS zentralen Themenfelder des Jahres 1988 spiegeln sich trotz der Einzelberichterstattung in der Informationstätigkeit der ZAIG wider und, so Joestel, erfassten gerade diejenigen Themenkomplexe, "die sich ein Jahr später für die DDR als letal herausstellen sollten" (52). Wenngleich es die ZAIG in ihren Berichten vermied, Probleme als grundsätzliche Systemdefizite zu charakterisieren, konnten die SED-Funktionäre doch recht genau über die angespannte Situation im Jahr 1988 im Bilde sein.

Große Aufmerksamkeit widmete das MfS in seinen Berichten Ost-West-Kontakten. So berichtete die ZAIG in ihrer Information Nr. 415/88 vom 16. September ausführlich über die Einreise westlicher Politiker und ihre Kontakte zur evangelischen Kirche in der DDR. Westliche Politiker, so die Beobachtung des MfS, bestärkten ihre kirchlichen Gesprächspartner darin, "die Kirchen als schützendes Dach für antisozialistische Kräfte nutzbar zu machen" (220f). Beunruhigt stellte es fest, dass mit den zunehmenden Kontakten der angebliche Versuch einhergehe, die evangelischen Kirchen in der DDR als "politische Institution" zu profilieren (222).

Ebenfalls auf einzelne Fälle von öffentlichen Protestbekundungen bezogen sind die ZAIG-Berichte, die sich mit dem für die SED wichtigen Themenfeld "Flucht und Ausreise" befassten. Darüber sollte die ZAIG allerdings nicht umfassend und analytisch berichten, da sich das MfS nicht anmaßen durfte, weitreichende politische Analysen zu verfassen, zu denen "allein die Partei befugt" war (16). Die ZAIG-Informationen erlauben durch ihre Darstellung von einzelnen Protestaktionen einen Blick auf die Hilflosigkeit des SED-Regimes, mit den Ausreiseantragstellern umzugehen. Wenn man bedenkt, wie panisch die SED-Parteiführung schon auf die Solidarisierung von Antragstellern 1976 in Riesa reagiert hatte, überrascht es nicht weiter, dass sie durch die sich häufenden Meldungen über derartige Aktionen im Jahr 1988 besorgt war. Am 4. April berichtete die ZAIG beispielsweise an Egon Krenz und Innenminister Friedrich Dickel, dass sich am Vortag in Dresden rund 100 Personen versammelt hatten, um öffentlich für ihre Ausreise zu demonstrieren. Obwohl seitens der Deutschen Volkspolizei "umfangreiche[...] vorbeugende[...] Maßnahmen" getroffen worden waren, konnte die Demonstration nicht verhindert werden (161). Auch die Verbindung von Ausreiseantragstellern mit kirchlichen bzw. oppositionellen Veranstaltungen wurde zum Gegenstand der Berichterstattung. So hätten Antragsteller Anfang November während eines Treffens in der Berliner Bekenntniskirche in Treptow versucht, von der bekannten Oppositionellen Bärbel Bohley Informationen zu ihrem Ausreisebegehren zu erhalten.

Ein weiteres zentrales Themenfeld bildete in der ZAIG-Berichterstattung die politische Opposition und damit zusammenhängende Protestveranstaltungen. Einen großen Umfang nehmen dabei die Meldungen über die Geschehnisse während der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration Mitte Januar und deren Folgen ein. Bei der staatlichen Demonstration hatten Ausreiseantragsteller und Oppositionelle das Regime durch Transparente und Plakate u. a. mit Textauszügen von Rosa Luxemburg öffentlich angeklagt. Die ZAIG berichtete am 18. Januar, die Demonstration habe so missbraucht werden sollen, um "die staatlichen Organe der DDR hinsichtlich der Genehmigung der Übersiedlungsersuchen unter Druck zu setzen" und den "Handlungsspielraum feindlich-negativer Kräfte weiter auszuweiten" (81). Die Information Nr. 28/88 zeigt deutlich, dass das SED-Regime nach wie vor in seinen Reaktionsmustern verhaftet blieb: Zahlreiche Personen wurden "zugeführt", mit Ermittlungsverfahren überzogen oder sollten kurzfristig aus der DDR ausgewiesen werden.

Es sind weniger die unzähligen Einzelheiten über Verhaftungen oder ähnliches, die den Wert der ZAIG-Berichte als historische Quellen ausmachen. Bei näherer Betrachtung eröffnet sich vielmehr ein gesamtgesellschaftliches Panorama aus dem spezifischen Blickwinkel des MfS. Die ZAIG-Berichte des Jahres 1988 lesen sich im Rückblick als Chronik des Niedergangs der DDR aus Sicht des "Schildes und Schwertes" der SED. Die Edition der ZAIG-Berichte macht daher eine Fülle an Material für Forschende und andere Interessierte zugänglich. Wie spannend das ist, zeigt der Band zum Jahr 1988 sehr eindringlich.

Rezension über:

Frank Joestel (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1988. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 320 S., 6 Abb. + 1 CD-Rom, ISBN 978-3-525-37502-0, EUR 29,95

Rezension von:
Anja Hanisch
Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Anja Hanisch: Rezension von: Frank Joestel (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1988. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 2 [15.02.2012], URL: https://www.sehepunkte.de/2012/02/19308.html


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