Monika Wagner über William Turner: Der Blick fällt auf ein schlankes und reich bebildertes Taschenbuch der seit 2009 an der Universität Hamburg emeritierten Professorin für Kunstgeschichte über den schon zu Lebzeiten berühmten Landschaftsmaler in der Reihe Wissen im Verlag C.H. Beck. Dort gesellt sich das Bändchen zu weiteren neueren Darstellungen einzelner Maler des 19. Jahrhunderts wie Adolph Menzel, Philipp Otto Runge, Vincent Van Gogh und Paul Cézanne. "Wesentliche Themen", so wird im Verlagsverzeichnis geworben, "werden anspruchsvoll, knapp und kompetent" vorgestellt. [1]
Die Themen der Kunstgeschichtsschreibung Wagners sind eng mit der englischen Landschaftsmalerei, namentlich Turners Bildkunst verbunden, seit sie 1979 ihre Dissertation Die Industrielandschaft in der englischen Malerei vorlegte. [2] Es folgten u.a. ihre Ausführungen zu Wirklichkeitserfahrung und Bilderfindung, Turner, Constable, Delacroix, Courbet für die von ihr herausgegebene Publikation des Funkkollegs Kunst [3] sowie zum Material "Farbe" bei Turner in ihrem vielleicht bekanntesten Buch Das Material in der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. [4] Naheliegend, dass Wagner auch zum Katalog der Ausstellung William Turner. Maler der Elemente im Bucerius Kunstforum in Hamburg einen Essay, Zur Fusion der Elemente in Turners Malerei, beisteuern konnte. [5]
Das hier rezensierte Buch und der genannte Katalog erschienen zeitgleich. Was nicht erwähnenswert wäre, wenn sich nicht Katalogessay und Buchtext Wagners bezüglich der Thesen, Themen, Bildbeispiele und vergleichenden Analysen wie Kurz- und Langfassung einer Vorlage zueinander verhielten. Die Überschneidungen werden penetrant, wenn die Autorin sich selbst zitiert, wie etwa bei ihrer Interpretation von Turners Gemälde Der Held der hundert Schlachten. [6] Gewiss, wer den Katalogtext kennt, kann bei der Lektüre von William Turner noch vieles lernen, in umgekehrter Reihenfolge trifft dies nicht zu.
In den sieben Kapiteln ihres Buchs stellt sie Turners Leben (in Ansätzen) und Werk (ausführlich) vor: die Anfänge des Studenten an der "Monro-Akademie" (10) und ab dem Alter von 24 Jahren als Professor für Perspektivlehre an der Londoner Royal Academy; den Maler als Reisenden, der als Topograf, ja als Chronist von Landschaften auftritt und in seinen Skizzen zunehmend freie Darstellungsmodi erprobt, die in der Folge zur "Vorstellung einer aktiven Natur" (44) führen, welche der Künstler vermittels einer Malaktion mit "Spachtelhiebe[n] und Pinselspuren" (47) erfüllte; den Maler der "bewegten Luft" (51), also des "Mediums" (48), in dem alle Bildgegenstände und ihre Betrachtung aufgehoben sind; den Künstler, der die Landschaftsmalerei auf eine Stufe mit Historiengemälden zu heben suchte und dabei den Zorn derjenigen auf sich zog, die bei Turner bloß Versatzstücke von Historien erkannten (77ff.), Witterungszustände aber ekstatisch vergegenwärtigt fanden; den Maler industrieller Produktion bzw. der Orte, die von ihr geprägt wurden und - Kristallisationspunkt der Publikation Wagners - Turners kongeniale Darstellung einer fahrenden Eisenbahn in "Regen, Dampf und Geschwindigkeit - die Great Western Eisenbahn (sic!)" (76, Abb. 31), worin sich die "Unterwerfung der Elemente" (97) durch Technisierung und die Integration von Technik in Natur-Elemente (Wolken, Regen) gleichermaßen zeigt; der Maler der "Epochenvergleiche" (105), der die vergangene Größe Roms mit der gegenwärtigen Größe Englands als "ökonomisch führende Industrienation Europas" (109) zusammendenkt, sodass die römischen Ruinen als "Relikte der Antike" (108) zum Gegenstand von Distanzierung und melancholischem Eingedenken in Vergänglichkeit zugleich werden. Zum Abschluss liefert Wagner einen kurzen Abriss der teilweise sehr negativen "Turnerrezeption" (117) in Deutschland (118) und der vergleichsweise positiven Resonanz in Frankreich (119).
Kurz gefasst: Wagner hat einen kenntnis- und deutungsreichen Text verfasst, der den Laien mit der Fülle kunsthistorischer Betrachtungen zu Turner bekannt macht und dem Kenner viele Einstiegspunkte für weiterführende Studien eröffnet. Letzterer vermisst allerdings die Maßangaben der Werke in den Bildunterschriften sowie einen Fußnotenapparat.
Spannend ist die zentrale, vielfach wiederkehrende These Wagners, dass es die spezifische Malweise dieses Künstlers sei, welche seine Zeitgenossenschaft belegt und ihn zugleich von seinen Zeitgenossen unterscheidet: "Es gilt indessen zu verstehen, inwieweit Turners Auseinandersetzungen mit einer turbulenten Gegenwart und seine Malweise einander bedingen." (7) An welche gesellschaftlichen, politischen, naturwissenschaftlichen, wirtschaftlichen und kunsttheoretischen Turbulenzen Wagner hier denkt, lässt sich für jedes der sieben Kapitel neu definieren, die Frage, mit welcher Malweise Turner re-/agiert, bleibt immer gleich: seine dynamischen, atmosphärisch aufgeladenen, im positiven Sinne virtuosen Farbaufträge, der Bild gewordene - wie Michel Serres schrieb - "kosmische Koitus. [...] Der Liebesakt zwischen Feuer und Wasser." [7]
Diese über Jahre und Jahrzehnte erarbeitete und kultivierte Malweise wurde Turners (wie man heute sagen würde) 'Markenzeichen' oder wie Turner selbst es formulierte: "'Atmosphäre ist mein Stil'" (51). Aufgrund des Abstraktionsgrads seiner Aquarelle und Gemälde lässt die Malweise viele Deutungen zu. Turners nachlassendes Interesse an der Zentralperspektive zugunsten von Luft- und Farbperspektiven (Kap. 1), seine Vorliebe für die Ruine als "unabgeschlossene formale Struktur", die seinem "Darstellungsprinzip der offenen Form entgegen[kommt]" (32, Kap. 2), seine Übertragung von Wind- und Wolkenbewegungen in Malerei (Kap. 3), seine "Verweigerung des Helden" der Historie zugunsten ihres "Transfer[s] in die Landschaft" als "Anfang vom Ende der Gattung Historienmalerei" (69, Kap. 4), seine künstlerischen Parallelaktionen zur industriellen Nutzung der Elemente Feuer und Wasser, die Serres veranlassten, Turner als "[d]as erste wahrhafte Genie der Thermodynamik" [8] zu bezeichnen (Kap. 5).
Ein Reizthema in Sachen Malkultur stellt für Monika Wagner die Vorreiterrolle dar, die Turner von nachfolgenden Generationen mit Blick auf den Impressionismus in Frankreich zugesprochen wurde. Mit ihrer Kritik schließt sie unausgesprochen an Michel Serres an (den in anderem Zusammenhang auch Wagner zitiert (104)), der schrieb: "Nein, Turner ist kein Prä-Impressionist. Er ist Realist, genauer gesagt: ein Materialist". [9] Bei Wagner heißt es im Einleitungspassus von William Turner: "Turner zählt heute zu den Wegbereitern der modernen Malerei. Seine Bilder gelten als Vorläufer des Impressionismus und als Frühformen abstrakter Kunst. Die Einschränkung auf eine solche formalistische Sicht vernachlässigt jedoch die historische Aktualität und Brisanz von Turners Malerei" (7). So überraschend es ist, dass Wagner in einem Buch, das "wesentliche Themen" des Künstlers vorstellen soll, mit der Polarisierung von Zeitgenossenschaft und Wegbereiterfunktion eines Künstlers einsetzt, immerhin zwei gleichermaßen legitime Forschungsansätze, so sehr verwundert es, dass sie auch damit endet: "Inzwischen ist Turner von der Kunstgeschichtsschreibung zum Vorläufer der ungegenständlichen Kunst des 20. Jahrhunderts erkoren worden. [...] Die unfertigen Bilder [haben] begonnen, den fertigen Gemälden den Rang abzulaufen, wie die Ausstellung Turner, Hugo, Moreau - Entdeckung der Abstraktion [Hervorhebung im Original] in der Frankfurter Schirn Kunsthalle von 2007 belegt." (123)
Da Wagner um die Wechselfälle der Kunstgeschichtsschreibung weiß, deren Auslegungen sich differenzieren und erneuern lassen, hätte der Rezensent erwartet, dass sie im Anschluss an ihre sachliche Auseinandersetzung mit den Unterschieden zwischen Turners Malweise und derjenigen der Impressionisten (122) ihre Darstellung mit einer umfassenden und weitsichtigen Würdigung des Œuvres William Turners abrundete - anstatt den Schlusspunkt ihrer Ausführungen mit einer krittelnden Rezeption heutiger Ausstellungskultur zu setzen.
Anmerkungen:
[1] http://www.chbeck.de/trefferliste.aspx?toc=3343 [abgerufen am 4.1.2012].
[2] Monika Wagner: Die Industrielandschaft in der englischen Malerei, in: Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 8, hg. von Alexander Perrig, Frankfurt am Main 1979.
[3] Monika Wagner: Wirklichkeitserfahrung und Bilderfindung. Turner, Constable, Delacroix, Courbet, in: Moderne Kunst: Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, hg. von Dies., 2 Bde., Reinbek bei Hamburg 1991, Bd. 1, 115-134.
[4] Monika Wagner: Das Material in der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001, 25-28.
[5] Monika Wagner: Zur Fusion der Elemente in Turners Malerei, in: William Turner. Maler der Elemente, hg. von Ortrud Westheider / Michael Philipp (Ausst.-Kat. Bucerius Kunst Forum, Hamburg 2.6.-11.9.2011 / Muzeum Narodowe, Krakau 1.10.2011-8.1.2012 / Turner Contemporary, Margate 28.1.-13.5.2012), München 2011, 65-73.
[6] Im Essay heißt es: "Vielmehr wird in 'Der Held der hundert Schlachten' eine Transformation von Metall in Ruhm, von Material in Bedeutung vorgeführt", Wagner 2011, 73; in "William Turner" schreibt sie: "In 'Der Held der hundert Schlachten' geht es demnach um eine Transformation von Metall in Ruhm, von Material in Bedeutung", 86.
[7] Michel Serres: Über Malerei. Vermeer - LaTour - Turner (dt. Erstausgabe: Berlin 1992), Hamburg 2010, 109.
[8] Serres 2010, 94.
[9] Ebd.
Monika Wagner: William Turner (= Beck'sche Reihe; Bd. 2514), München: C.H.Beck 2011, 128 S., 47 Abb., ISBN 978-3-406-61275-6, EUR 8,95
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