sehepunkte 12 (2012), Nr. 3

Daniel S. Richter: Cosmopolis

Der frühkaiserzeitliche Stoiker Epiktet war einer der antiken Vordenker des Gedankens des Kosmopolitismus. Er überliefert einen angeblichen - tatsächlich unhistorischen - Satz bereits des Sokrates. Dieser habe einem Gesprächspartner geraten: Kosmier"> (d.h. 'ein Weltbürger', Dissertationes 1,9,1, bei Cicero, Tusculanae disputationes 5,108 auf Latein überliefert als mundanus bzw. totius mundi incola et civis). Ailios Aristeides dagegen pries 155 n. Chr. das römische Kaiserreich zur Zeit des Antoninus Pius mit begeisterten Worten. Erstmals sei nunmehr die gesamte zivilisierte Welt unter der Herrschaft des römischen Kaisers eine einzige Polis geworden, eine wahre Kosmopolis (Romrede, insb. 36 und 63). Richter möchte keine vollständige Entwicklungsgeschichte des antiken Kosmopolitismus vorlegen, sondern insbesondere die frühen Wurzeln der kaiserzeitlichen Konzeptionen erörtern. Er untersucht, wann, in welchem geistigen Umfeld und in welchen Schritten sich in der griechisch-römischen Antike die Idee von einer jenseits aller oberflächlichen Unterschiede der Menschen in Hautfarbe, Herkunft, Sprachen, religiösen und kulturellen Traditionen trotzdem vorhandenen Einheit der Menschheit (unity of mankind) der zivilisierten Welt formte, wie sie in Schriften des Epiktet, des Bion, des Ailios Aristeides, des Plutarch, des Lukian und anderer Autoren deutlich erkennbar ist.

Richter zufolge wurden geistige Grundlagen der kaiserzeitlichen kosmopolitischen Gedanken bereits in den Diskussionen über In- und Exklusion unterschiedlicher Gruppen und Bürgertugend in der spätklassischen Polis Athen gelegt. Ältere aristokratisch-biologistische und geographische Determinismustheorien wurden bereits im 4. Jh. v. Chr. scharf angegriffen, ebenfalls die einfache Hellenen-Barbaren-Dichotomie. Die Kritik an aristokratischen Privilegien in der athenischen Polis von Seiten der Demokraten und die Krise des attischen Autochthoniekonzeptes legten dann weitere geistige Grundlage für die kosmopolitischen Konzepte (Kap. 1: Nature, Culture, and the Boundaries of the Human Community, 21-54). Es folgten die Erschütterung der kleinräumigen klassischen Polisstaatenwelt durch die Errichtung des Oikumenereiches Alexanders des Großen und wenig später neue philosophische Gedanken des Begründers der Stoa, Zenon von Kition. Ohne Zweifel spielten dann vom 3.-1. Jh. v. Chr. hellenistische Autoren in der Entwicklung der antiken kosmopolitschen Gedanken eine wichtige Rolle. Aber ihre Werke sind sämtlich nur mehr in fragmentarischer Form erhalten und daher schwer interpretierbar.

Zenons Stoa und die übrigen großen Philosophenschulen bildeten eine frühe antike "multiethnic intellegentsia" (Kap. 2: After Ethnicity: Zeno as Citizen, 55-86, Zitat 59). Alle vier großen hellenistischen Philosophenschulen waren offen für mit den Athenern gleichberechtigte ausländische Studenten. Es gab bezeichnenderweise kaum gebürtige Athener als Schuloberhäupter. Die Philosophenschulen wurden so zu einem frühen hellenistischen Laboratorium des intellektuellen Kosmopolitismus. Dennoch sei Richter zufolge Zenons Idee, dass jeder tugendhafte Mensch unabhängig von Abstammung, Rasse usw. als Mitbürger mit gleichem Recht in der Polis zu akzeptieren sei, zunächst noch primär als eine Kritik an dem engen alten Ideal der Polisgemeinschaft Athens gemeint gewesen. Erst hellenistische und römische Stoiker hätten einen positiv gefüllten Begriff des Kosmopolitismus entwickelt, in dem die stoischen Grundideen der Oikeiosis und Sympatheia elementare Bausteine waren. Der römische Philosoph Cato der Jüngere war sicherlich bereits ein Vertreter des antiken "rooted cosmopolitanism", in dem "a natural affinity for all of humanity provides the basis of local and specific political allegiance" (82).

Kaiserzeitliche Philosophen und Rhetoren griffen Richter zufolge Formeln und ideologische Konzepte, die bereits im 4. Jh. v. Chr. entwickelt wurden, bewusst auf und transformierten sie mit Blick auf die neue Situation im römischen Weltreich. Dion Chrysostomos, Aristeides, Plutarch und andere schufen eine Rhetorik der Einheit (Kap. 3: The Rhetoric of Unity, 87-134). Innerhalb der Kosmopolis des Imperium Romanum existierte zugleich ein dichtes Netzwerk von Poleis, die sich untereinander durch Syngeneia-Mythen und ihre gemeinsame Geschichte verbunden fühlten sowie das Ideal der Homonoia und lokale Identitäten hochhielten. Das bekannteste Zeugnis für die Geschichte des antiken kosmopolitischen Denkens stellt vielleicht die vor dem Kaiser gehaltene Romrede des Ailios Aristeides dar. Die ursprünglich in Athen begründete, griechisch geprägte rhetorisch-philosophische Weltkultur verband nach Aristeides alle Gebildeten des römischen Weltreiches als Weltbürger. In der Schöpfung dieser "cultural unity" liege die historische Leistung Athens, die auch in der Kaiserzeit den Primat dieser Stadt als symbolischem Bildungsort legitimiere (125).

Athens zentrale Lage in Hellas habe dort "purity - ethnic, cultural, and linguistic" (128) hervorgebracht. Das im 2. Jh. im Alltag nicht mehr gesprochene klassische Attisch des 4. Jh v. Chr. wurde zur gemeinsamen Sprache der kosmopolitischen reichsweiten kaiserzeitlichen Bildungselite und galt als entscheidendes Zeichen der Zugehörigkeit zu ihr. Dieser Sprachstil schuf einen einheitlichen kulturellen Raum der Literatur und bildete eine "pure world of signs" (Kap. 4: "A Pure World of Signs": Language and Empire, 135-176).

Über Jahrhunderte wurde die Streitfrage erörtert, ob zuerst die Griechen oder bereits zuvor andere östliche Völker (Ägypter, Perser, Inder) die wichtigsten Weisheitslehren entwickelt und die Philosophie als Disziplin begründet hätten (Kap. 5: The Origins of Human Wisdom, 177-206). Reich und kompliziert sind daher die Traditionen über Reisen berühmter Griechen nach Ägypten, Persien, oder Indien (Thales, Demokrit, Pythagoras, Solon usw.). Die meisten Intellektuellen des 1.-2. Jh. hielten jedoch daran fest, dass Hellas und dort Athen das Zentrum der geistigen Wurzeln einer kulturell homogenen kosmopolitischen Elite sei. Synkretistische Tendenzen in den paganen griechisch-römischen Religionen, die Gleichsetzung heimischer mit fremdländischen Gottheiten und allegorische Interpretationen fremdartiger Mythen bereiteten den kaiserzeitlichen Gedanken der "unity of the Divine" vor, der seinerseits wiederum das kosmopolitische Denken unterstützte (Kap. 6: The Unity of the Divine, 207-242).

Das Thema der Monographie besitzt zweifellos hohe Aktualität auch für die konfliktreiche globalisierte Welt zu Anfang des 21. Jh. und führt über altertumswissenschaftliche Fachdiskussionen hinaus. Richter wirft abschließend (243-246) im Anschluss an Studien u.a. von Bruce Ackerman (Rooted Cosmopolitanism, Ethics 104, 1994, 516-535) oder Kwame Anthony Appiah (Cosmopolitanism: Ethics in a World of Strangers, New York 2006 = Der Kosmopolit: Philosophie des Weltbürgertums, Bonn 2007) die Frage auf, wie sich heutzutage ein zeitgemäßes Analogon zum kaiserzeitlich-stoischen Ideal des lokal verwurzelten Kosmopolitismus definieren könnte. Das empfehlenswerte Buch schließt mit einer Bibliographie (247-269) und einem Index zu Namen, Orten und Begriffen (271-278). Leider fehlt ein Quellenindex.

Rezension über:

Daniel S. Richter: Cosmopolis. Imagining Community in Late Classical Athens and the Early Roman Empire, Oxford: Oxford University Press 2011, 278 S., ISBN 978-0-19-977268-1, GBP 45,00

Rezension von:
Johannes Engels
Universität zu Köln
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Engels: Rezension von: Daniel S. Richter: Cosmopolis. Imagining Community in Late Classical Athens and the Early Roman Empire, Oxford: Oxford University Press 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 3 [15.03.2012], URL: https://www.sehepunkte.de/2012/03/20288.html


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