sehepunkte 12 (2012), Nr. 4

Klaus Sachs-Hombach / Rainer Totzke (Hgg.): Bilder - Sehen - Denken

Der Band Bilder - Sehen - Denken versammelt Beiträge der gleichnamigen internationalen Fachtagung, die im März 2009 an der Technischen Universität Chemnitz stattfand. Die Tagung bildete zugleich den Startschuss zur Gründung der Gesellschaft für Interdisziplinäre Bildwissenschaft e.V. (GIB), die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Bildwissenschaft als eigenständige Grundlagendisziplin zu fördern. Der Sinn dieser noch jungen Wissenschaft besteht vor allem darin, das Bild-Sein näher zu bestimmen und damit zusammenhängend die Frage zu klären, wie sich Bildkompetenz und -kommunikation strukturieren.

Dazu ist es nicht nur erforderlich, "ikonografische Vorbilder eines konkreten Bildes zu kennen, Stilmittel und Materialität zu analysieren und den historischen und sozialen Entstehungskontext zu rekonstruieren, sondern auch, die Bilder in ihren psychologischen, sozialen und kulturellen Wirkungen auf die Bildbetrachter beurteilen zu können" (9). Die im Vorwort des Bandes formulierte Betrachter-orientierte Perspektive versucht daher, kognitive Grundfunktionen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis oder Gestaltwahrnehmung in Bezug auf ihre Rolle für das Verstehen und Erfahren von Bildern zu analysieren. Sie bezieht jedoch auch erlernte kognitive und interpretatorische Fähigkeiten mit ein. Zudem behandeln eine Vielzahl der Artikel empirische bildpsychologische Untersuchungen, um das methodologische Fundament der Bildwissenschaft zu stärken. Dieser interdisziplinäre Ansatz soll dazu dienen, den Bedingungen der Möglichkeit von Bilderfahrung nachzuspüren. Und eben dieser Frage gehen die im Sammelband vorliegenden Aufsätze nach.

Das Buch gliedert sich in drei thematische Teile: Teil 1 widmet sich den methodologisch-philosophischen Grundlagen der Bildwissenschaft, Teil 2 behandelt konkrete empirisch-psychologische Forschungen und Teil 3 die Einzelaspekte und Anwendungen von Bildrezeptionsanalysen.

So wird im ersten Teil u.a. von Kristóf Nyíri das von Gombrich vielfach aufgegriffene Problem der Darstellung von Zeit und Bewegung in statischen Bildern behandelt. Charles Forceville unterstützt mit seinem Text das Programm der von Sachs-Hombach konzeptionierten Bildwissenschaft und arbeitet einen Sechs-Punkte-Plan aus. Er schlägt u.a. vor, multimodale Bilder stärker mit einzubeziehen. Diese Bilder, die wir als Filme, Fernsehen oder Spiele kennen und die neben dem Visuellen auch gesprochene und geschriebene Sprache, Gesten oder Musik enthalten können, interagieren auf besonders starke Weise mit den Betrachtenden (35). Doch auch die grundlegenden Fragen nach der Ontologie und der Struktur mentaler Repräsentation als Grundbegriff einer philosophischen Bildwissenschaft werden behandelt. Ferdinand Fellmann geht mit den Methoden der Evolutionsbiologie der Frage nach, wie die Menschen mentale Bilder entwickeln konnten, während Zsuzsanna Kondor die kognitiven Prozesse und die Art und Weise der Speicherung von Sinneswahrnehmungen analysiert, um deren Rolle für Prozesse des Verstehens von Bildern herauszuarbeiten (114-121). Jörg R. J. Schirra und Klaus Sachs-Hombach arbeiten in ihrem Aufsatz schließlich die anthropologische Frage heraus, was den Menschen als homo pictor ausmacht, also welches die basalen Charakteristika des Bildgebrauchs sind und wie sich dieser vom Sprachgebrauch unterscheidet.

Im zweiten Teil des Bandes herrschen die empirisch-psychologischen Ansätze vor und untermauern damit die erarbeiteten Grundlagen der vorangehenden Artikel. So widmet sich der Aufsatz von Helmut Leder einer Psychologie der Kunst und untersucht die Netzhautbilder als "Rohstoff der visuellen Wahrnehmung" (181) und deren Verarbeitung im Gehirn. Weitere Aufsätze beschäftigen sich vor allem mit der Erfassung und Messung der Bildkompetenzen von Kindern und filmunerfahrenen Zuschauern in der Türkei, die einen Film zum ersten Mal sehen. Die Ergebnisse von Sermin Ildira und Stephan Schwan weisen klare Unterschiede zwischen erfahrenen und unerfahrenen Zuschauern auf und modifizieren zugleich die anfangs gestellten Fragen: "[The] focus of our main interest has shifted from the role of formal cinematographic features like shots or ellipses to the fundamental question how film inexperienced viewers cognitively process visual narratives" (202). Genau hier setzen die Überlegungen von Anna Katharina Diergarten und Gerhild Nieding an, die untersuchen, ob Kinder unterschiedlicher Altersgruppen die emotionalen Zustände filmischer Figuren nachvollziehen können. Sie filtern in ihrer Analyse Faktoren wie Alter, Emotionswissen und Medienkompetenz heraus, die sich signifikant auf die Messergebnisse auswirken und heben die Möglichkeit des Mediengebrauchs hervor, das Emotionswissen von Kindern zu erweitern (328).

Einen großen Teil nimmt in dieser Sektion die Analyse von Aufmerksamkeit und Blickbewegungen ein. Rainer Höger, Hermann Kalkofen, Bern Körber, Micha Strack und Jana Holsanova beschäftigen sich in ihren Aufsätzen mit diesem Phänomen. Sie arbeiten verschiedene Leitprinzipien heraus, die für die Analyse der Blickbewegungen zentral sind: reizgesteuerte Verarbeitung (bottom-up), Wissen, Erwartung, Motive (top-down). Dass diese Prinzipien zudem mit einer historisch konstituierten Bildkompetenz verkoppelt sind, wird besonders in der Untersuchung von Simultanbildern durch Kalkofen, Körber und Strack deutlich. So lenken nicht nur die Bilder selbst unseren Blick und unsere Aufmerksamkeit; im Zusammenspiel mit ihren Titeln, unseren Erwartungen oder (ikonischen) Erfahrungen ergeben sich vielmehr differente Pfade durch das Bild und damit auch unterschiedliche Interpretationen.

Im letzten Teil des Sammelbandes plädiert Hans Dieter Huber für eine eigene Beobachtungslehre der Bildwissenschaft, die Bildinterpretation als eine intermediale Angelegenheit versteht und notwendig mit dem Prozess der Herstellung von Bildern zusammengebracht werden muss: "Indem wir als Bildwissenschaftler lernen, wie Bilder funktionieren, indem wir verstehen, wie sie aus einzelnen Elementen zusammengesetzt werden, erlernen wir ein grundlegendes Verständnis ihrer Funktionalität und Wirkungskraft" (348). Damit werden u.a. Ergebnisse der Blickbewegungsmessung aus dem vorhergehenden Teil wieder aufgegriffen.

Wie eine solche Beobachtungslehre funktionieren kann, wird durch die folgenden Analysen exemplifiziert. Anhand der Warburgschen Pathos-Formeln macht Christa Sütterlin deutlich, wie sich in Bildern dargestellte Ausdrucksbewegungen aus dem "natürlichen Verhaltensablauf zu besonderen Merkmalen und Differenzierungen" (378) innerhalb der Kunst entwickeln. Hier, wie in den folgenden Aufsätzen auch, wird die Rolle der historischen und kulturellen Kontexte herausgearbeitet, die als Verstehenskontexte aufzufassen sind und sich auf die Interpretation und somit das Verstehen von Bildern auswirken.

Durch die Verzahnung der interdisziplinären Analysen und die vorbildliche Anwendung theoretischer Überlegungen auf adäquate Beispiele wird das methodische Panorama einer Bildwissenschaft sichtbar, das sich notwendigerweise aus unterschiedlichen Richtungen dem Problem der Bildkompetenz zu nähern versucht. Mit diesem Band wird die Komplexität des Vorhabens deutlich, die Bedingungen der Möglichkeit von Bilderfahrung zu erfassen. Dennoch ist es den Herausgebern durch die Strukturierung und Auswahl der Artikel gelungen, diesem Vorhaben eine Gestalt zu verleihen. Damit liefert dieser Band - vor allem im Kontext der vorangegangenen Arbeiten von Klaus Sachs-Hombach - einen wichtigen Beitrag zur Formulierung einer interdisziplinären Bildwissenschaft.

Rezension über:

Klaus Sachs-Hombach / Rainer Totzke (Hgg.): Bilder - Sehen - Denken. Zum Verhältnis von begrifflich-philosophischen und empirisch-psychologischen Ansätzen in der bildwissenschaftlichen Forschung, Köln: Halem 2011, 451 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-86962-006-0, EUR 30,00

Rezension von:
karsten
Fachhochschule Kiel
Empfohlene Zitierweise:
karsten: Rezension von: Klaus Sachs-Hombach / Rainer Totzke (Hgg.): Bilder - Sehen - Denken. Zum Verhältnis von begrifflich-philosophischen und empirisch-psychologischen Ansätzen in der bildwissenschaftlichen Forschung, Köln: Halem 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 4 [15.04.2012], URL: https://www.sehepunkte.de/2012/04/20336.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.