Bibliotheken - geistige Rüstkammern, Abbilder einer kosmologischen Weltordnung und Speicher des Wissens - erregen von alters her die Aufmerksamkeit der Gelehrten und Bücherfreunde. Die von Ptolemäus I. (305-283/82 v.Chr.) gegründete Bibliothek von Alexandria sollte nicht nur Seneca und Flavius Josephus zu Spekulationen über die Anzahl der darin aufbewahrten Texte veranlassen. Sebastian Brant diente sie noch 1494 im ersten Kapitel seines "Narrenschiffs" als mahnendes Beispiel vor einer durch den Buchdruck gesteigerten Bücherflut, die nicht mit einer kundigen Nutzung des gesammelten Wissens einhergehe. Ihre Wiedereröffnung im Oktober 2002 wurde auch in der Absicht vorgenommen, "mit den Ressentiments zwischen Islam und westlicher Welt aufzuräumen". [1] Büchersammlungen humanistisch gebildeter Herrscher wie die heute nach Herzog August benannte Bibliothek in Wolfenbüttel wurden im 17. Jahrhundert als "achtes Weltwunder" gefeiert. Der verheerende Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek (2. September 2004) oder der Einsturz des Historischen Stadtarchivs in Köln (3. März 2009), das gleichfalls Handschriften zu seinen Schätzen zählt, erregten bundesweit Aufsehen. Offensichtlich sind Bibliotheken als Zeugnisse von Intellektualität und Zivilisation - trotz allen Kampfes um die Sicherung der Finanzierung, die so manchen Rettungsruf erforderlich macht (vgl. die Petition im November 2011 für die Wissenschaftliche Stadtbibliothek Mainz) - auch heute im Zeitalter des medialen Überangebots nicht ins Schattendasein abgedrängt.
Ganz ähnlich sieht es bei den Fachpublikationen aus. Einzeldarstellungen und Monographien über antike oder monastische Bibliotheken, über fürstliche Büchersammlungen oder Klosterbibliotheken sind aus der Perspektive verschiedener Fachdisziplinen geschrieben worden oder Gegenstand einiger aktueller bibliotheksgeschichtlicher Forschungsprojekte.
Uwe Jochum - durch zahlreiche Publikationen bestens ausgewiesener Bibliothekar der Universitätsbibliothek Konstanz - stößt deshalb mit seiner "Geschichte der abendländischen Bibliothek" in kein unbearbeitetes Gebiet vor. Gleichwohl bietet er einige neue Ansätze, die das aktuelle Werk auch von seiner bereits 1993 vorgestellten "Kleinen Bibliotheksgeschichte" [2] unterscheiden. In sechs Kapiteln stellt der Autor einen nach chronologischen und funktional-konzeptionellen Gesichtspunkten geordneten Überblick vor, für die er ein ungewohntes Gliederungssystem wählt. Er beginnt mit der "Bibliothek in der Höhle" und frühen künstlerischen Artefakten der Altsteinzeit in Lascaux (9-18) und spannt den Bogen über sogenannte kosmologische Bibliotheken des Vorderen Orients (19-33), imperiale Bibliotheken (33-56) und Bibliotheken des Heils von Klöstern, Kathedralen und Universitäten (57-82) bis zu den Bibliotheken des Nutzens (83-126) im Besitz des Adels sowie den Bibliotheken im Netz (127-144). Eine sehr schöne Bereicherung sind die über 90 qualitätvollen, meist großformatig und in Farbe präsentierten Abbildungen von Bibliotheksräumen, -gebäuden oder auch Büchern und Handschriften. Literaturnachweise, eine Bibliographie sowie ein Register runden den Band ab. Nicht nur die ansprechende Aufmachung, sondern auch die vom Autor jeweils in den kulturhistorischen Kontext eingebetteten Kapitel machen die Monographie zu einem sehr gut lesbaren Buch, das sich vor allem an eine breit interessierte Leserschaft richtet.
Der aufmerksame Leser stutzt allerdings zuweilen und wünscht sich eine ausgewogenere Darstellung. Bereits der Einstieg mit einem kulturpessimistisch anmutenden Vorwort verwundert, scheint doch sein negativer Tenor nicht zu der Absicht zu passen, das Vergessen der medialen Vergangenheit aufhalten zu wollen. Auch die intensive Würdigung des "in den Höhlen medientechnisch eroberten Raums" bzw. der Wissensspeicherung in der Steinzeit (9-21) wäre im Anschluss daran kaum in dieser Ausführlichkeit erforderlich. Die erste Definition einer Bibliothek erfolgt deshalb erst im Kapitel über kosmologische Bibliotheken des Zweistromlandes als "Aufbewahrungsort für Texte aus dem Traditionsstrom" (23).
Das Informationsangebot wird in den nachfolgenden Kapiteln entsprechend der umfangreicher erhaltenen Überlieferung dichter. Jochum thematisiert unter anderem die Trennung von Bibliothek und Archiv in der Blütezeit des Zweistromlandes, die Bibliotheken der römischen Kaiser, bibliothekstheoretische Konzepte im Zeitalter von Absolutismus und Aufklärung (Naudé, Leibniz), außerdem auf den Spuren Walter Benjamins die Entauratisierung des Buches im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Jedoch täuscht der anfängliche Eindruck, dass die Epochen und Bibliothekstypen paritätisch vorgestellt würden. Kleinere Unstimmigkeiten fallen dabei kaum ins Gewicht, so Jochums in der Forschung nicht unangefochten vertretene Negierung des Bibliotheksbrandes von Alexandria (48) oder die durchweg fehlenden Angaben zur Datierung der abgebildeten Objekte und ihre inhaltlich nicht immer ausreichenden Bildunterschriften. Ob man allerdings illuminierte Handschriften und Erzeugnisse des frühen Buchdrucks als "Bücher" bezeichnen muss, "deren kultureller Wert sich primär [...] aus bunten Seiten oder teuren Einbänden ergibt" bzw. bei denen "jedes Exemplar einer Druckauflage genau gleich [ist], und es nichts mehr gibt, was man noch als ästhetischen Unterschied hätte wahrnehmen und genießen können" (99), darf bezweifelt werden. Der Bücherfreund wird sich fragen, wie dann die auf Pergament gedruckten Gutenberg-Bibeln oder mit Holzschnittserien ausgestattete Inkunabeln wie die des besagten Narrenschiffs (Basel 1494) einzuordnen sind, von drucktechnisch anspruchsvollen Gesetzessammlungen und -kommentaren ganz zu schweigen.
Vor allem aber die Bibliotheken der Klöster sowie der Domschulen und -kapitel - das heißt die Horte der Kultur und Buchherstellung schlechthin - werden relativ kursorisch und in einem Licht vorgestellt, das ein eher negatives Mittelalterbild widerzuspiegeln scheint. Dieser Eindruck resultiert nicht nur aus dem Umstand, dass zentrale Entwicklungen wie die sogenannte Renaissance des 12. Jahrhunderts unerwähnt blieben, sondern auch aus der raschen Gegenüberstellung von Kloster- und Universitätsbibliotheken. Über erstere hat man zuvor wenig mehr erfahren als vereinzelte Angaben über die Anzahl der Bücher (67-68, 77), einen nicht näher ausgeführten Bücherkanon sowie die Überlieferung seltener "Farbtupfer der Scholastik". Manches wird stark vereinfacht, man vergleiche etwa die lapidare Ableitung der Bettelorden aus den von Cluny und der Gesamtkirche getragenen Reformbewegungen (70), außerdem die gedrängten Angaben zur Mission in Früh- und Spätmittelalter (72). Bildungsideale bzw. die klösterliche Ausbildung in den septem artes liberales und vor allem den Triviumsfächern werden kaum erwähnt, ebenso wenig die durch Walter von Speyer oder die Bücherliste des Liber tramitis zum Teil überlieferten Lektürekanones. Dass Bücherkataloge in nachantiker Zeit keine Rolle spielen sollen (99), erstaunt angesichts der bei Gustav Becker edierten Catalogi bibliothecarum antiqui. Ähnlich vereinfachend sind die Ausführungen über die im Spätmittelalter eigentlich komplexe Ordenslandschaft, die mit Äußerungen wie "die ländliche Einsamkeit des Klosters" kaum adäquat skizziert ist. Schließlich wäre man auch für genauere Hinweise über die Auswirkungen der spätmittelalterlichen Reformbewegungen und der Reformation auf die Bestände und Zusammensetzung der Klosterbibliotheken oder über ihre späte Blüte im Barock dankbar gewesen - letzteres vor allem auch im Hinblick auf die Abbildung mehrerer barocker Klosterbibliothekssäle.
Über die genannten Punkte würde man in einem Überblickswerk eher hinwegsehen, wenn Uwe Jochum nicht die abschließenden Ausführungen über neuere Entwicklungen wie gewohnt [3] nur negativ dargestellt hätte. Der Leser erfährt zwar viel über die Probleme der Digitalisierung und Datenspeicherung, über die Selektivität der Kanonbildung sowie das nur mangelhaft geschützte Urheberrecht (Stichwort "Google": 129-131). Leider liest er nichts über die andere Seite der Medaille, die auch existiert und die viele zu schätzen wissen: die Online-Verfügbarkeit von Digitalisaten, deren Nutzung die größtmögliche Schonung historischer Originale und bessere Forschungsbedingungen für die Klärung von Fragen ermöglicht, die gerade der Rekonstruktion wichtiger Diskurse vergangener Zeiten und unseres kulturellen Erbes dient.
Alternative, zu Jochums Position kontrastierende Ansätze, die problem- und auch lösungsorientierte Aspekte vorstellen, hätten zur Verfügung gestanden. [4] Insgesamt ist die "Geschichte der abendländischen Bibliothek" so nicht nur mit einem lachenden, sondern im Hinblick auf diese einseitig pessimistische Rahmung auch mit einem weinenden Auge zu betrachten - bedauerlich angesichts des hohen Informationsgehalts und der schönen Aufmachung, die auch für einen ausdrücklich positiven Appell hätten genutzt werden können.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Bernd Musa: Bibliothek von Alexandria. Die gewagte Mission des neuen Wissenstempels: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,690061,00.html (letzter Zugriff 03.03.2012).
[2] 1993 bei Reclam Stuttgart, seit 2007 in dritter und verbesserter Auflage erhältlich.
[3] Vgl. zum Beispiel Uwe Jochum: Die Selbstabschaffung der Bibliotheken, in: Ders. / Armin Schlechter (Hg.): Das Ende der Bibliothek? Vom Wert des Analogen, Frankfurt a.M. 2011, 11-25.
[4] Zum Beispiel Bernhard Fischer: Von der "Handschrift" zum Digitalisat. Kehrseiten der Wissensgesellschaft, in: ebd., 93-100; Thomas Stäcker: Digitalisierung buchhistorischer Quellen und Fachportale, in: Ursula Rautenberg (Hg.): Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch, Bd. 2, Berlin / New York 2010, 711-734.
Uwe Jochum: Geschichte der abendländischen Bibliotheken, Darmstadt: Primus Verlag 2010, 160 S., ISBN 978-3-89678-669-2, EUR 39,90
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