In der an Konflikten reichen Geschichte der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg dürfte die "Krise des 'leeren Stuhls'" 1965/66 wohl die für die Existenz der Europäischen Gemeinschaft gefährlichste gewesen sein. Dennoch sind wir über ihre Hintergründe, den Verlauf und die Folgen bisher nur durch einige wenige Aufsätze und eine einzige Monographie informiert. [1] Eine aus den Quellen gehobene und auf die entscheidenden Monate fokussierte Studie war bisher ein Desiderat der Forschung.
Diese Lücke schließt nun auf überzeugende Art die von der Sorbonne und der Universität Duisburg-Essen im Studienjahr 2009/10 angenommene Dissertation von Philip Bajon. Auf breiter Literaturbasis [2] und unter Auswertung der relevanten Akten in nicht weniger als 20 deutschen und europäischen Archiven (!) untersucht Bajon nach einem einführenden Kapitel über die Lage der EWG zu Beginn der 1960er Jahre die letzten sechs Monate vor dem Ausbruch des Konflikts, um dann anschließend akribisch, ja minutiös den eigentlichen Krisenzeitraum von Juli 1965 bis Januar 1966 auszuleuchten. Abschließend erörtert er ausführlich die unmittelbaren Folgen des Streits.
Vor dem Hintergrund einer von Seiten der europäischen Regierungen wie der EWG-Kommission intensiv geführten Debatte über eine Reform der Agrarpolitik und des institutionellen Gerüsts der Gemeinschaft unterbreitet der französische Außenminister Couve de Murville Staatspräsident de Gaulle Ende Mai 1965 den Vorschlag, die europäischen Institutionen mit einem provozierten Eklat solange lahmzulegen, bis die anstehenden Probleme im Sinne Frankreichs gelöst wären. Vier Wochen später zog de Gaulle seine Vertreter aus den Brüsseler Gremien ab und brach damit die "Politik des leeren Stuhls" vom Zaun. Potentielle Handlungsspielräume abtastend, legte die EWG-Kommission Ende Juli ein Memorandum vor, das sich dem Standpunkt Frankreichs in der Agrarfrage annäherte. Doch de Gaulle ging es um weit mehr. In einer in ihrem aggressiven Ton kaum zu überbietenden Pressekonferenz stellte er Anfang September klar, dass Frankreich die Mitarbeit in Brüssel erst dann wieder aufnehmen werde, wenn seine Forderung nach Einbeziehung der Landwirtschaft in den Gemeinsamen Markt akzeptiert, das von der Kommission anvisierte Projekt einer europäischen Föderation fallengelassen und die Möglichkeit gegeben sei, das von ihr vorgesehene Mehrheitsprinzip im Ministerrat durch ein Veto auszuschalten. [3] Nach Monaten hartnäckigen Ringens zwischen Frankreich auf der einen und den übrigen fünf EWG-Mitgliedern auf der anderen Seite endete die Fehde Ende Januar 1966 mit dem sog. "Luxemburger Dissens". Am 8. Februar nahmen die Vertreter Frankreichs ihre Arbeit bei der EWG wieder auf.
Indem Bajon die kritischen Monate aus der dreifachen Perspektive der Kommission, Frankreichs und Deutschlands beleuchtet, vermag er unser Wissen über die Europapolitik "am Abgrund" in mancherlei Weise zu bestätigen, in bemerkenswertem Maße aber auch zu erweitern. Keinen Zweifel lässt er daran, dass der Zusammenbruch der EWG-Agrarverhandlungen am 30. Juni 1965 von der französischen Regierung "inszeniert" worden war und Couve de Murville dabei "eine an Sabotage grenzende, manipulative Verhandlungsführung" an den Tag legte (337). Kurz darauf begann Paris eine scharfe Kampagne gegen die EWG-Kommission und deren Plan einer Vollendung des europäischen Bundesstaates. Im Gegensatz zu der in der Literatur vorwiegenden Auffassung zeichnete nach Bajon nicht Kommissionspräsident Walter Hallstein, sondern seine Vize Sicco Mansholt für die Konfrontation mitverantwortlich, da er im Frühjahr kontinuierlich "eine Verschärfung der Kommissionspolitik" gefordert hatte (19), wohingegen Hallsteins Verhandlungsansatz "viel mehr auf 'Kompromiss' und 'Maßhalten' ausgelegt" war (332).
Ebenfalls unbekannt dürfte sein, dass de Gaulle trotz seiner "domaine reservé" keineswegs so "'entrückt' agierte wie es der sorgsam gepflegte Mythos suggeriert" (20). Zwar spielte der Präsident ab Ende Juni 1965 "die Rolle des Hauptdarstellers" (177), doch abgesehen von seinem Außenminister mochte kaum jemand im französischen Staatsapparat seinem Kurs folgen. Ob man angesichts evidenter Anzeichen einer "Spaltung" (335) zwischen de Gaulle und Couve auf der einen und der Ministerialbürokratie der beteiligten Fachministerien auf der anderen Seite von einer "Isolierung" des Generals (339) sprechen kann, erscheint indes fraglich. Da er offenbar eine "Europapolitik unter Ausschluss der französischen Experten und Diplomaten" betrieb (340), wirkte sein Handeln eher wie eine Selbstisolierung.
De Gaulle ging es um nicht weniger als um eine "Systemkorrektur" (338) der EWG in Richtung auf eine Konföderation souveräner Staaten. Dieser Erwägung untergeordnet war das Ziel, den wirtschaftlichen Nutzen der EWG für Frankreich abzusichern. Schon bald war klar, dass seine "Kartenspielertricks" die übrigen Mitglieder der Sechsergemeinschaft nicht auseinanderdividieren würden (211) - im Gegenteil. Seine Boykottpolitik schweißte die Fünf zu einer Koalition zusammen, wobei der Bundesrepublik eine "Führerstellung" zufiel (274) und Außenminister Gerhard Schröder "die zentrale Rolle" einnahm (20).
Angesichts der massiven Widerstände der Partner schwenkte de Gaulle im Laufe des Winters 1965/66 auf eine pragmatische Linie um und ersetzte sein anfänglich "ideologisch fundiertes Maximalprogramm" durch "bescheidenere Ziele" mit "rationalem politischem Kalkül" (340). So nahm er nicht nur die Forderung zurück, den Fünfen ein "Agreement" über die Handhabung des Mehrheitsprinzips abzutrotzen, sondern verzichtete auch auf eine sofortige Absetzung Hallsteins.
Seinem Wesen nach war das Ende Januar 1966 getroffene Luxemburger Arrangement "eine 'Nicht-Übereinkunft' über die 'Nichtanwendung' des Mehrheitsprinzips in Fällen von nationaler Relevanz" (324), wobei es weder eine Definition der vitalen Interessen noch eine Konkretisierung der Prozedur enthielt. Von einem "Nullsummenspiel", gar einem "Verlustgeschäft" für Frankreich kann indes kaum die Rede sein. Mag auch de Gaulle sein ursprüngliches Ziel eines "Rückbaus der Gemeinschaftsarchitektur" nicht erreicht haben (346), löste die Luxemburger Übereinkunft doch eine "regelrechte 'Veto-Kultur'" (326) im Ministerrat, einen Machtverlust der Kommission und einen "Trend zur Renationalisierung des Gemeinschaftsklimas" (347) aus, der die weitere Entwicklung der Gemeinschaft nachhaltig beeinflusste. Die Kommission fühlte sich jahrelang domestiziert, und das Einstimmigkeitsprinzip blieb bis zur Einheitlichen Europäischen Akte 1986 die Regel, sobald ein Land vitale Interessen anmeldete. Mag dies auch bloß ein "kollateraler Effekt" der französischen Politik gewesen sein (347), so entsprach es doch ganz ihren Interessen.
Eine erneute Befassung mit der Krise des "leeren Stuhls" 1965/66 scheint nach der im positiven Sinne erschöpfenden Arbeit Philip Bajons erst dann sinnvoll, wenn jener Archivbestand der Forschung zugänglich wird, der ihm wie ihr bisher verschlossen war: der Nachlass de Gaulles.
Anmerkungen:
[1] Vgl. N. Piers Ludlow: The European Community and the Crises of the 1960s. Negotiating the Gaullist Challenge, London / New York 2006, und die einschlägigen Aufsätze in: Wilfried Loth (ed.): Crises and Compromises: The European Project 1963-1969, Baden-Baden u. a. 2001; Jean-Marie Palayret / Helen Wallace / Pascaline Winand (eds.): Visions, Votes and Vetoes. The Empty Chair Crises and the Luxembourg Compromise Forty Years On, Brüssel 2006.
[2] Nicht berücksichtigt wurde die grundlegende Studie von Tim Geiger: Atlantiker gegen Gaullisten. Außenpolitischer Konflikt und innerparteilicher Machtkampf in der CDU/CSU 1958-1969, München 2008.
[3] Pressekonferenz de Gaulles, 9.9.1965, in: ders., Discours et Messages, Bd.4: Pour l'effort 1962-1965, Paris 1970, 372-392.
Philip Bajon: Europapolitik "am Abgrund". Die Krise des "leeren Stuhls" 1965-66 (= Studien zur Geschichte der europäischen Integration; Nr. 15), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, 416 S., ISBN 978-3-515-10071-7, EUR 53,00
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