Ein Skandal nicht nur in heutigen Augen: Gottes Gnade ist nicht unbegrenzt und unendlich. Er hat uns allen einen "peremptorischen Termin" gesetzt. Waren wir nicht bußfertig bis dahin, ist ein für alle Mal Schluss. Dies war die Position des pietistischen Sorauer Diakons Johann Georg Böse, mit der er 1698 an die Öffentlichkeit trat. Hatte die alte Kirche das Seelenheil verschachert und Gott so zum Pfennigfuchser gemacht, machten die Neugläubigen - genauer diejenigen unter ihnen, die nicht stecken bleiben wollten auf dem Weg zum neuen Adam - Gott nun implizit zu einem Verwaltungsbeamten, so konnte es scheinen. Sola gratia: Sola fide, sola scriptura, solus Christus - alles hing von der Gnade Gottes ab, war von Gewicht insoweit die Gnade Gottes gewichtig war. Konnte es, durfte es sein, dass man gerade sie und mit ihr Gott aushebeln konnte, dass man Gott, gelebte Frömmigkeit, Kirchenautorität ein Leben lang links liegen ließ mit dem Vertrauen auf die Gnade am Schluss? Nein, meinte Philipp Jakob Spener: So wie uns das Heute nicht ewig bleibe, schließe sich die Gnadentür Gottes, wenn sich Verstockung als dunkle Wolke zwischen Gott und den Menschen lege.[1] Böse hatte Speners "Wer nicht will, der wird nicht" radikalisiert und, wie wenigstens die lutherische Orthodoxie fand, heterodox konkretisiert. Die nun folgende Kontroverse um den Gnadentermin, die den Rahmen homiletischer Seelsorge verließ und mit 250 Streitschriften neben einer Vielzahl von Gutachten und Predigten durch die lutherische Kirche fegte, zählt, neben den Hamburger Auseinandersetzungen um die Autorität der Symbolischen Bücher zehn Jahre früher, zu den umfangreichsten Streitfällen der Pietismuskontroverse. Während des ersten Konflikts hatte sich die lutherische Geistlichkeit in "pietistische" bzw. "orthodoxe" Flügel formiert und im Respons auf "orthodoxe" Vorwürfe "pietistische" Theologie bestimmt, d.h. artikuliert, was eigentlich in theologischer Perspektive als "pietistisch" gelten könne. Der Pietismus hat sich derart amtskirchlich etabliert und zugleich seine Haltung zum radikalen Pietismus bestimmt. Er hat sich dabei als Kernelement der evangelischen Kirche institutionalisiert. Es ist kein Zufall, dass die Pietismuskontroverse mit der Frage nach dem Rechtscharakter der lutherischen Bekenntnisschriften Fahrt aufnahm, dass derart die Verbindlichkeit frommer Lebensführung zu einem Institutionalisierungsproblem wurde und dabei gerade der Frage nach der Terminierbarkeit von Gnade ein zentraler Platz zugewiesen wurde.
Andreas Gößners Habilitation arbeitet das Material zu ihrem Gegenstand in Vollständigkeit ab, gibt einem die Gewissheit, dass alle Archive aufgesucht, alle Quellen erfasst worden sind. Gößner ist es gelungen, den bislang bekannten Streitschriftenbestand zur terministischen Kontroverse um ein Drittel zu erweitern. Das Buch bietet Forschung. Es ist in der Darstellung dem naturwissenschaftlichen Experimentbericht nicht unähnlich. Es bietet das Protokoll eines historischen Ereignisses. Gößner gliedert chronologisch und dann lokal: Böses Traktat, die Wirkungen in Sorau, die Gutachten von Thomasius und der Theologischen Fakultät Leipzig, die Verhandlung vor dem Konsistorium in Lübben, weitere Fakultätsgutachten weiterer Universitäten, die Auseinandersetzungen um den Gnadentermin innerhalb der Leipziger Fakultät 1700, die darauf folgenden Streitschriften- und Gutachtenschlachten, der Hauptstrang der Kontroverse zwischen den Leipziger Theologen Thomas Ittig und Adam Rechenberg, die über 20 flankierenden Gutachten nord- und süddeutscher Universitäten und Ministerien 1701, der Ausklang und die Auffächerung des Streits von 1703 bis 1710. Gößner legt viel Wert darauf, nicht nur den Gutachten- und Streitschrifteninhalt zu referieren, sondern auch das kirchenpolitische Geschehen im Hintergrund, etwa Beschwerden und Gegenbeschwerden beim Kurfürsten, und nicht zuletzt die Fraktionsbildungen in Sorau und den Universitätsfakultäten zu erfassen. Er zeigt: Theologischer Diskurs - und das gilt wohl für die Medialität anderer Diskurse in anderem sozialen, kulturellen und institutionellen Rahmen auch - ist nicht nur eine Frage von Rede und Gegenrede. Das, was als richtig, zulässig, identitätsstiftend erachtet wird, was verpflichtend ist und sichtbar wird, wird auch aus sozialen und institutionellen Verhaltensmaßgaben geschöpft. Soziales, Institutionelles und Debatten sind nicht nach dem Muster "äußere Bühne" und "Inhalt" getrennt. Beides bildet das Ereignisgefüge des Streits als verknüpftes Geschehen. Gößner führt vor Augen, wie Streitschriften, Gutachten und Predigten inhaltlich und formal, etwa durch die Arbeiten am Status controversiae, zusammengehörten. Über Böse wurde anstelle von Spener gestritten. Gößner verweist darauf, dass der maßgebliche Vertreter Böses, Adam Rechenberg, Schwiegersohn Speners und Schwager Thomasius' war, während an Ittigs Seite dessen Schwager, der Wittenberger Theologe Neumann, trat. Theologenstreit ist, wie andere Kontroversverfahren auch, das Ergebnis persönlichen Engagements in den Bahnen vorgegebener Prozedere, Strukturen und klassifizierter Überlieferung.
Augustinus' Gnadenlehre zunächst, Calvins Prädestination, der Konflikt mit den Arminianern darum in den Niederlanden in den Zeiten des 80jährigen Kriegs, dann derjenige zwischen den Jesuiten und Jansenisten in Frankreich im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts - wie schon in den Niederlanden ging es auch hier auch um Autorität und Staat - und nun der "peremptorische" Ausschluss von der Gnade als Streitgegenstand der lutherischen Kirche im Pietismusstreit: Die Geistlichkeit war wiederum in breiter Front an dieser Kontroverse um Kirche, Leben und Kirchenpolitik beteiligt und die Frage nach dem Gnadentermin behielt in ihr bis zum Schluss einen zentralen Stellenwert. Zwei Dutzend geistliche Ministerien und theologische Fakultäten waren im Terminismusstreit involviert. Als er um 1710 abebbt, wird er von prominenten Kombattanten auf orthodoxer wie pietistischer Seite in deren Kompendien zur Pietismuskontroverse aufgenommen, das Bedenken eines Gnadentermins wird zu einem Kennzeichen des Pietismus gemacht. Es ist das große Verdienst Gößners, dies im Einzelnen verfolgt, dokumentiert und damit erfassbar gemacht zu haben. Er illustriert den Streitverlauf in Diagrammen, bietet eine erschöpfende Streitschriftenbibliographie. Er erläutert die Positionen. Er analysiert darüber hinaus den Aufbau der Texte, das "Geflecht zwischen Autoren, Werktiteln, Zensur und Markt" (323), die "Formen der Disqualifizierung des Gegners" (333). Im Interpretieren des Inhalts hält Gößner sich zurück. Doch zeigt sein Buch in bemerkenswerter Weise, so will mir scheinen, dass Gnade - der Kern von Kirche als christlicher Gemeinschaft mit Gott - im Rahmen des Terminismusstreits nicht nur ein theologisches, sondern zeitgenössisch gerade auch ein institutionelles Problem darstellte: es ging um die Frage, inwieweit sich Gottes gratia als Gnade präzisieren lässt, die man mit Rechtsbegrifflichkeit ausficht und für die medial Gutachten und administrativ Kollegien von Geistlichen und Fakultäten mit ihren jeweiligen Mitteln die Definitionsmacht beanspruchen. Der Terminismusstreit besaß seinen theologisch zentralen Gegenstand nicht von ungefähr: Das von Gößner rekonstruierte Geschehen spiegelt wider, wie sich im Streitgeschehen pietistischer Kirchenreform Kirche in Glaubenssätze, weiter in Verwaltung und Kircheninstitution und so schließlich wieder in Kirche transformierte.
Gößners Buch zeigt, wie sich was im Terminismusstreit im Einzelnen abgespielt hat. Es bietet den Atlas der Kontroverse, der das komplexe Disputgefüge wieder historisch zugänglich macht.
Anmerkung:
[1] Spener, Die evangelischen Lebenspflichten 1692, 265; vgl. Gößner, 14 f., 116, 176.
Andreas Gößner: Der terministische Streit. Vorgeschichte, Verlauf und Bedeutung eines theologischen Konflikts an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert (= Beiträge zur historischen Theologie; 159), Tübingen: Mohr Siebeck 2011, XIII + 495 S., ISBN 978-3-16-150851-6, EUR 134,00
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