"Vous n'allez donc point à Herculanum?", so erkundigt sich Friedrich der Große 1753 fast schon entsetzt in einem Brief an Francesco Algarotti, der sich gerade auf einer ausgedehnten Italienreise befand. "[C]'est le phénomène de notre siècle," erklärt der 'Alte Fritz' emphatisch und behauptet, dass er breitwillig die 500 Meilen reiste, "pour voir une ville antique ressuscitée de dessous les cendres du Vésuve", wenn er nur könnte. [1]
Hintergrund dieser Äußerungen sind Begebenheiten, die 1709 ihren Anfang nahmen, als man unter einer meterdicken Schicht vulkanischen Materials auf die Überreste einer antike Stadt stieß: Herculaneum, das 79 n. Chr. dem Ausbruch des Vesuvs zum Opfer gefallen war. Diese Entdeckung stellt ein zentrales Ereignis für die Ausbildung jener Antikenbegeisterung dar, welche den europäischen Klassizismus begründete. Weiteren Auftrieb erhielt das allgemeine Interesse, als im Jahr 1750 unter dem Tuffgestein eine imposante römische Villa gefunden wurde. Deren größter Schatz wurde eher zufällig als solcher erkannt, als sich vermeintliche Holzklötze als karbonisierte Papyri entpuppten, die Teil einer umfangreichen antiken Bibliothek gewesen sein mussten.
Seither ist die so genannte 'Villa dei Papiri' immer wieder Gegenstand der altertumswissenschaftlichen Forschung gewesen, die sich nach einer ersten intensiven Grabungsphase (1750-1765) allerdings auf die Papyri und Skulpturen konzentrierte; die Architektur der Villa hingegen wurde - von kleineren Grabungen abgesehen - häufig lediglich auf dem Papier studiert. In den 1980er Jahren wurden verstärkt Bemühungen unternommen, die Anlage erneut einer umfassenden Untersuchung zugänglich zu machen, ein Projekt, das 1994 bis 1998 sowie im Jahr 2007 durchgeführt wurde. Den Erkenntnissen von 250 Jahren Forschung widmete sich im September 2007 die Tagung "The Archaeology, Reception and Digital Reconstruction of the Villa of the Papyri", deren Erträge der vorliegende Sammelband in insgesamt zehn Beiträgen vereint (IX).
Im Wesentlichen werden zwei Themenfelder erschlossen. Die ersten sechs Beiträge behandeln 'klassische' altertumswissenschaftliche Fragen. So werden zunächst die Ergebnisse der modernen Grabungen betrachtet: Antonio De Simone erörtert die Wiederentdeckung der Villa in den 1980er Jahren und die Ausgrabungen der 1990er Jahre ("Rediscovering the Villa of the Papyri", 1-20); Maria Paola Guidobaldi und Domenico Eposito stellen in "New Archaeological Research at the Villa of the Papyri in Herculaneum" (21-62) sodann die Befunde der jüngsten Grabungen vor. [2] Die Archäologen kommen unter anderem zu dem Schluss, dass die auf vier Ebenen angelegte Villa, die mehrfach erweitert, ausgeschmückt und renoviert wurde, noch weitläufiger war als lange Zeit angenommen. Generell sei die Anlage im Kontext der Bemühungen der spätrepublikanischen Senatsaristokratie zu interpretieren, "to reproduce in their domus and villas a lifestyle inspired by the Hellenistic courts. The same characteristics are present in the Villa of the Papyri, which stands out among similar buildings for its exceptional dimensions and the opulence of its decorative apparatus" (61).
Anschließend richtet sich der Fokus auf die Innenausstattung der Villa und die Frage nach ihren Eigentümern. Eric M. Moormann erörtert "Wall Paintings in the Villa of the Papyri. Old and New Finds" (63-78). Carol C. Mattusch gelangt in "Programming Sculpture? Collection and Display in the Villa of the Papyri" (79-88) zu einer differenzierten Antwort auf die Frage, ob die Statuenfunde auf ein regelrechtes 'Ausstattungsprogramm' schließen lassen: "[O]nce we abandon the notion that we need to identify everyone represented in the Villa's sculpture or that there must be a program linking all the sculptures, we begin to see that there are many programs of which this heterogeneous collection is comprised" (87).
Mario Capasso erörtert in seinem Beitrag sodann die viel diskutierte Frage, wer in römischer Zeit Besitzer der Villa gewesen sein könnte ("Who lived in the Villa of the Papyri at Herculaneum - A Settled Question?", 89-113). Capasso kann - wie schon so viele Gelehrte vor ihm - diese Frage nicht mit letzter Gewissheit beantworten, doch er geht davon aus, dass Caesars Schwiegervater Lucius Calpurnius Piso und dessen Nachkommen die wahrscheinlichsten Kandidaten seien. David Sider thematisiert die berühmten Papyri und skizziert die Entwicklung von Methoden zu ihrer Erforschung seit ihrer Entdeckung ("The Books of the Villa of the Papyri", 115-127).
Die folgenden vier Beiträge sind dem zweiten Themenschwerpunkt des Sammelbandes gewidmet: der Rezeption der Villa, die auf unterschiedliche Weise, insbesondere in den Versuchen der Rekonstruktion bis hin zu den Digitalisierungsprojekten des 20. und 21. Jahrhunderts, zum Ausdruck kommt. Kenneth Lapatin skizziert die Planung und Entstehung des berühmten Getty-Museums in Malibu, dessen Architektur der Villa dei Papiri nachempfunden ist ("The Getty Villa: Recreating the Villa of the Papyri in Malibu", 129-138). Diese Anlage stellt daher nicht nur ein spannendes Zeugnis der Antikenrezeption des 20. Jahrhunderts dar, sondern auch einen bemerkenswerten Versuch, die zur Verfügung stehenden Kenntnisse über die Architektur des antiken Vorbilds umzusetzen und erfahrbar zu machen. Anschließend erörtert Dana Arnold die Frage, wie die Umstände der Entdeckung die Wahrnehmung der Villa im 18. Jahrhundert beeinflusst haben ("En Foüllant à l'Aveugle: Discovering the Villa of the Papyri in the 18th Century", 139-154).
Diane Favro erörtert in ihrem Beitrag "From Pleasure, to 'Guilty Pleasure', to Simulation: Rebirthing the Villa of the Papyri" (155-179) die verschiedenen Stationen der Rekonstruktion der Villa. Insbesondere geht sie hierbei dem Verhältnis von Rekonstruktion und sensorischem Erleben nach, für dessen Einbindung in rekonstruierende Modelle sie auch vor dem Hintergrund eintritt, dass Haptik ein wichtiges Anliegen der römischen Erbauer war. Dass moderne 'Reproduktionen' des in der Antike sensorisch Wahrnehmbaren noch stärker als in anderen Bereichen auf den Mutmaßungen und Assoziationen der Rekonstrukteure beruhen, während dem Betrachter auf der schwer zu hinterfragenden Ebene des Fühlens 'Authentizität' vorgespiegelt wird, wird leider nicht thematisiert. Dass eine antike Umwelt unter modernen Bedingungen auch dann kaum zu replizieren wäre, wenn wir mehr über die antike Wahrnehmung antiker Geräusche, Gerüche und visueller Eindrücke wüssten, wird ebenfalls kaum problematisiert.
Abschließend beleuchtet Mantha Zarmakoupi neue Wege der digitalen Modelbildung auf interdisziplinärer Basis ("The Virtual Reality Digital Model of the Villa of the Papyri Project", 181-193). Zarmakoupi stellt ein Projekt der UCLA zur digitalen Rekonstruktion der Villa dei Papiri vor, dessen Ziel zum einen die Erstellung eines Modells ist, das sowohl die seit dem 18. Jahrhundert bekannten architektonischen Strukturen, als auch die neuesten Erkenntnisse integriert; zum anderen soll eine virtuelle Realität erzeugt werden, in der einerseits die chronologisch unterscheidbaren Wissensstufen erkennbar sind und die andererseits "the the surviving known fragments of the finds from the Villa, such as wall paintings, mosaics, sculptures and papyri" angemessen einbindet (181). Das Projekt richtet sich an Forschung, Lehre und Studierende und beansprucht, zur kritischen Auseinandersetzung mit Rekonstruktionen der Villa beizutragen.
Eine - arg knapp geratene - Einleitung (VII-IX) eine Bibliographie (197-213), ein Index (215-221) sowie zahlreiche, zum Teil farbige Abbildungen (Platte 1-78) runden die insgesamt sehr gefällig gestalteten Publikation ab.
Der vorliegende Sammelband bietet eine lesenswerte und interessante, wenn auch manchmal recht deskriptive Zusammenstellung neuer Forschungsansätze zur Villa dei Papiri. Die Beiträge eröffnen den Blick auf Herangehensweisen unterschiedlicher disziplinärer Provenienz, die zu ihrer Erforschung beitragen (können) - nicht nur hinsichtlich des antiken 'Ursprungskontextes' der Villa, sondern auch in Bezug auf Wirkungsgeschichte und Rekonstruktionsversuche, die für unterschiedliche, jeweils zeitgebundene Interpretationen dieses Monuments stehen.
Bedauerlich ist, dass dies bei der Konzeption des Sammelbandes nicht offensiv als Programm vertreten wurde. Eine Einleitung, die Fragestellung, Ziele sowie die Interdisziplinarität der Perspektiven reflektiert und nicht lediglich konstatiert, wäre hier vorteilhaft gewesen. Dies wäre auch der Diskussionseinheit zur Rezeption und Rekonstruktion zu Gute gekommen, deren Beiträge etwas wahllos aneinandergereiht erscheinen. Schade ist auch, dass dem zum Teil äußerst kontrovers diskutierten Verhältnis von wissenschaftlicher Rekonstruktion bzw. deren Umsetzung und den - nicht zwangsläufig illegitimen - wirtschaftlichen Interessen der touristischen Vermarktung solcher Stätten kein eigener Beitrag gewidmet ist. Leider wurde auch darauf verzichtet, in der Einleitung die wichtigsten allgemeinen Informationen zu den Stationen der Entdeckung, Erforschung und Rezeption der Villa voranzustellen, die sich der nicht einschlägig bewanderte Leser nun relativ mühsam in den einzelnen Beiträgen zusammensuchen muss.
Anmerkungen:
[1] D. E. Preuss (Hg.): Œuvres de Frédéric le Grand, 18: Correspondance, Berlin 1851, Nr. 85, zitiert nach: http://friedrich.uni-trier.de/de/oeuvres/18/101/text/, besucht am 12.07.2012.
[2] Der Beitrag ist die englische Version des italienischen summary der Grabungsergebnisse: Maria Paola Guidobaldi u. Domenico Eposito, Le nuove richerche archeologiche nella Villa dei Papiri di Ercolaneo, in: Cronache Ercolanesi 39 (2009), 333-372.
Mantha Zarmakoupi (ed.): The Villa of the Papyri at Herculaneum. Archaeology, Reception, and Digital Reconstruction (= Sozomena. Studies in the Recovery of Ancient Texts; Vol. 1), Berlin: De Gruyter 2010, IX + 300 S., 78 Bildtafeln, ISBN 978-3-11-020388-2, EUR 98,00
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