Lebten die Studierenden in der DDR zwischen Widerstand und Repression? Oder gab es nicht auch so etwas wie "Normalität" im Studium? Haben nicht viele Studenten ihre beste Zeit an der Universität verbracht, gelebt, geliebt, gefeiert...? Solche Fragen beschäftigen die universitätsgeschichtliche Forschung zur SBZ/DDR. Stets geht es sowohl um das Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Politik als auch um das von Alltag und Diktatur. In den 1990er Jahren standen vor allem Enthüllungen repressiver Strukturen und das Schicksal politisch Verfolgter im Mittelpunkt des Interesses - also die Präsentation dessen, was bisher nicht gesagt werden durfte oder konnte. Nach dieser Fokussierung auf Opposition und Repression wurden in den folgenden Jahren zunehmend auch Strukturfragen untersucht: die Studienorganisation, die Hochschulreformen, die "Normalwissenschaft", die wissenschaftlichen Leistungen und Fehlleistungen. Insbesondere die Autoren der - meist durch Jubiläen angeregten - universitätsgeschichtlichen Gesamtdarstellungen standen vor der Aufgabe, eine Balance zu finden zwischen Strukturfragen und Einzelschicksalen, zwischen Wissenschafts-, Sozial- und politischer Geschichte der Hochschulen.
Gerade die Studierenden bildeten und bilden eine besondere soziale Gruppe. So galt der akademische Nachwuchs in der DDR auf der einen Seite als zukünftige Stütze des Staates und das Hochschulstudium als Privileg, für das Dankbarkeit und Loyalität erwartet wurden. Auf der anderen Seite sind Studenten aber generell in einem Alter, in dem sie noch nicht in gesellschaftlichen Strukturen eingebunden sind und sich viele noch auf der Suche nach Orientierung befinden. Sie sind in der Regel gut genug ausgebildet, um Defizite zu sehen und kritische Fragen stellen zu können. Deswegen waren Studenten häufig die Avantgarde gesellschaftlicher Bewegungen - sei es im Deutschland des frühen 19. Jahrhundert, sei es während der internationalen Proteste 1967/68 oder in Peking im Frühsommer 1989. Dass sie in der DDR keine Vorreiter der Friedlichen Revolution 1989/90 waren, ist bekannt, nichtsdestotrotz bilden sie einen untersuchenswerten Forschungsgegenstand.
Es lohnt sich, die Studentengeschichte innerhalb der universitätsgeschichtlichen Forschung stark zu machen. Insofern ist es zu begrüßen, dass Matthias Lienert nun eine Gesamtdarstellung zur Technischen Universität Dresden vorgelegt hat, die explizit die Rolle der Studenten im Titel hat. Dresden war - gemessen an den Studentenzahlen - nach Berlin der zweitgrößte Hochschulstandort der DDR. Die 1961 zur Technischen Universität erhobene TH war aufgrund der technisch-naturwissenschaftlichen Ausrichtung auch von großer volkswirtschaftlicher Bedeutung für die DDR.
Als Leiter des Dresdner Universitätsarchivs kennt Lienert die Quellen sehr gut, wobei zu betonen ist, dass er nicht nur die Bestände seines eigenen Archivs berücksichtigt, sondern Materialien verschiedener Provenienz, auch aus den Akten der Staatssicherheit, verarbeitet hat. Das Buch beschreibt eine Fülle von erschütternden Einzelschicksalen und zeigt auf, dass es im gesamten Untersuchungszeitraum zu politischen Konflikten und studentischem Aufbegehren kam, wenn auch im zahlenmäßigen Verhältnis wohl etwas weniger als an anderen Standorten der DDR. Der zeitliche Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf den 1950er Jahren. Vor allem wird sehr ausführlich der Dresdner Studentenprozess von 1959 mit Vorgeschichte und Nachwirkungen referiert. Angeklagt waren Dresdner Studierende, die eine in der Tat sehr bemerkenswerte Widerstandsgruppe bildeten: Sie nannten sich "Nationalkommunistischer Studentenbund", arbeiteten vornehmlich konspirativ und stellten sehr weitgehende systemkritische Forderungen: Meinungsfreiheit, freie gesamtdeutsche Wahlen, Reisefreiheit, Parteienpluralismus, Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit, Justizreform. Diese Studenten gerieten ins Visier der Staatssicherheit, wurden verhaftet und in einem international beachteten Prozess, der den Charakter eines stalinistischen Schauprozesses hatte, zu hohen Haftstrafen verurteilt.
Die Geschichte dieser Widerstandsgruppe umfasst fast ein Drittel des Buches, wird im Wesentlichen aus Gerichts- und Stasiakten rekonstruiert und relativ nüchtern referiert. Auch angesichts der Bedeutung der Gruppe wäre es vielleicht besser gewesen, das Buch explizit - auch im Buchtitel - auf deren Geschichte zu fokussieren. Man hätte dann auch Vergleiche mit ähnlichen Gruppen anderer Universitäten einbringen und einen stärker analytischen Ansatz verfolgen können.
Hier liegt der Hauptkritikpunkt an dem an sich verdienstvollen und wichtigen Buch Matthias Lienerts. Die Darstellung bleibt über weite Strecken beschreibend. Synthese, Vergleich und Thesenbildung sind nicht die Stärken der Monografie. So kann man feststellen, dass die am Anfang dieser Rezension formulierten Forschungsfragen nicht thematisiert bzw. beantwortet werden. Allerdings nimmt Lienert dies auch nicht für sich in Anspruch. Stattdessen wird die Fragestellung der 1990er Jahre explizit reformuliert: Es dominiert das Interesse an Aufklärung, an der Würdigung einzelner Schicksale.
Die eher additive Aneinanderreihung von Einzelbeispielen, der streckenweise umständliche Stil (etwa durch Nennung akademischer Grade und Abschlüsse im Text), aber auch die uneinheitliche Zitierweise in den Fußnoten, veranlassen den Rezensenten zu der fast floskelhaften Feststellung, dass ein (gründlicheres) Lektorat dem Buch gut getan hätte. Lienerts Studie erreicht insgesamt nicht ganz das Niveau der bemerkenswerten, aber viel zu wenig beachteten, Darstellung zur Chemnitzer Universitätsgeschichte - ein Buch, das deshalb hier exemplarisch genannt werden soll, weil es ebenfalls unter Federführung des Universitätsarchivs entstand, quellennah geschrieben ist und dem studentischen Leben viel Platz einräumt. [1] Man wundert sich auch etwas über die zufällig anmutende Literaturgrundlage. So wird zum Beispiel eine Geschichte der CIA von Tim Werner verwendet, ein Großteil der universitätsgeschichtlichen Forschung - vor allem zu anderen Hochschulen - bleibt jedoch unberücksichtigt. Auch die bereits existierende mehrbändige Geschichte der TU Dresden wird selten vergleichend herangezogen. [2]
Trotz dieser Monita ist dem Buch Lienerts eine weite Verbreitung zu wünschen, weil es aus gründlicher Quellenkenntnis heraus wichtige Themen anspricht und so weitere Forschungen ermöglicht. Besonders hinzuweisen ist auf das Kapitel zum Entzug akademischer Grade, eine viel zu wenig untersuchte Variante staatlicher Repression. Vor allem jedoch sind viele der Beispiele bisher unbekannt oder noch nicht ausführlich beschrieben worden. Das Buch spiegelt also einen nach 20 Jahren Forschung erweiterten Wissensstand wider.
Anmerkungen:
[1] Stephan Luther (u.a.): Von der Kgl. Gewerbeschule zur Technischen Universität. Die Entwicklung der höheren technischen Bildung in Chemnitz 1836-2003, Chemnitz 2003.
[2] Reiner Pommerin (Hg.): 175 Jahre TU Dresden, 3 Bände, Köln / Weimar / Wien 2003.
Matthias Lienert: Zwischen Widerstand und Repression. Studenten der TU Dresden 1946-1989, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2011, 242 S., 28 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-20598-0, EUR 29,90
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