Der Speyerer Reichstag des Jahres 1526 zählt gemeinhin zu den bekannteren Reichstagen, welche unter der Regentschaft Karls V. einberufen wurden. Wird mit ihm doch die Territorialisierung der Religionsfrage verbunden, die Eröffnung jenes Freiraumes also, der die Religionsausübung bis zur Entscheidung durch eine Nationalversammlung oder ein freies Konzil in die Verfügungsgewalt der Stände stellte. Und doch sollte es gut einhundert Jahre dauern, bis die Akten dieses und des Augsburger Reichstages 1525 als Band V/VI innerhalb der Jüngeren Reihe der Reichstagsakten im Jahre 2011 im Druck vorgelegt wurden.
Seit 1905 wurde, damals unter Adolf Wrede, der Band konzipiert, die Manuskripte wurden durch Julius Volk, Johannes Kühn und Karl Wolff erstellt. Nachdem das Material jedoch 1943 im Historischen Seminar der Leipziger Universität Opfer der Flammen wurde, übernahm Irmgard Höss 1958 die Aufgabe, zumindest ein Aktenverzeichnis für den Speyerer Reichstag zu erstellen. Mit Heinrich Lutz, der in den siebziger Jahren die Reichstagsaktenforschung auf eine institutionelle Basis stellte, erfuhr der Band eine Neukonzeption als regulärer Reichstagsaktenband. Dessen Umsetzung erfolgte zunächst erneut durch Irmgard Höss, die jedoch krankheitsbedingt die Bearbeitung im Jahr 1999 einstellen mußte. Dank der Finanzierung seitens der DFG konnten die Arbeiten im Jahr 2007 fortgesetzt und aufgrund der Erfahrungen, die sich Rosemarie Aulinger durch die Bearbeitung früherer Reichstagsakten-Bände erworben hatte, drei Jahre später abgeschlossen werden. Trotz der Probleme, die sich naturgemäß mit der Übernahme eines Manuskriptes ergeben, haben die Bearbeiterin Rosemarie Aulinger und die wissenschaftliche Hilfskraft Christiane Neubert in kürzester Zeit einen ansehnlichen Band vorgelegt.
Der Reichstagsaktenband V/VI besteht aus vier Kapiteln, denen eine profunde historische Einleitung, ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Register der Personen- und Ortsnamen beigegeben ist. Das lediglich rund 50 Seiten umfassende Kapitel 1 thematisiert den für den November 1524 angesetzten Reichstag und dessen Absage durch Karl V. Der Kaiser hoffte damit ebenso wie Papst Clemens VII. sowohl eine Diskussion über Luthers Lehren als auch über die Reformbedürftigkeit der Alten Kirche auf dem Reichstag verhindern zu können. Die Notwendigkeit der Einberufung eines Reichstages war damit jedoch nicht aus der Welt. Die Frage der Religionsausübung erhielt angesichts der Bauernunruhen eine neue Dringlichkeit. So schrieb denn auch Karl V., nachdem er aufgrund des militärischen Erfolges bei Pavia zumindest für kurze Zeit die Aufmerksamkeit auf das Reich richten konnte, für September 1525 einen Reichstag nach Augsburg aus. Diesem ist das 2. Kapitel gewidmet. Erfolglos war dieser durch Erzherzog Ferdinand geleitete Reichstag nicht nur wegen der persönlichen Absenz fast aller Reichsfürsten. Das kaiserliche Verbot, das Wormser Edikt und die Kirchenordnung einer Diskussion auszusetzen, erwies sich für jeden Verhandlungspunkt als hinderlich. Der Band dokumentiert auf ca. 130 Seiten einerseits, wie die Verhandlungen ins Stocken gerieten, die Bündnisbemühungen einzelner Reichsstände (Dessauer Bund, Torgauer Bund, Städtebund) andererseits. Der Reichsabschied vom 6. Januar 1526 bestätigte denn auch letztlich die politische Religionsformel des Nürnberger Reichstages und sah einen neuen Reichstag für das Frühjahr 1526 in Speyer vor.
Das dritte und umfangreichste Kapitel umfaßt die Akten jenes Speyerer Reichstages des Jahres 1526. Die Pläne Ferdinands, den Reichstag nochmals zu verschieben, scheiterten letztlich an der Notwendigkeit, angesichts der militärischen Bewegung an den Grenzen und der Unruhen im Reich selbst über die Türkenhilfe und die Finanzierung der Reichsbehörden zu beraten. Wiederum musste der Erzherzog seinen Bruder vertreten, da Karl in Italien gebunden war. Und erneut wurde rasch deutlich, dass das kaiserliche Verbot der Verhandlung der Religionsfrage die Beratung der anderen Punkte überlagerte oder gar blockierte. Um dennoch die von Ferdinand benötigte Bewilligung der Türkenhilfe den Reichstag passieren zu lassen, einigten sich die Reichsstände letztlich auf die bekannte Formel, wie der Umgang mit dem Wormser Edikt zu handhaben sei. Erstmals ist diese dokumentiert im Protokoll des Mainzer Sekretärs Rucker über die Beratung der Kurfürsten (Nr. 430): "sich darin [Glaubensartikel] ein yeder erzceigen und halten, das sie gegen Gott und ir Mt. verantworten wissen zu vermogen" (4. August 1526). Die Formel des 4. Artikels des Speyerer Reichsabschieds vom 27. August 1526 (Nr. 221) lautete: "wie ein yeder solhs gegen Got und ksl. Mt. hofft und vertrauet zu verantwurten". Der Kaiser sollte nun also durch eine Gesandtschaft über die Problematik der Umsetzung des Wormser Ediktes informiert und um eine Milderung gebeten werden. Abschließend einigten sich die Reichsstände auf die Türkenhilfe, wenn auch in reduziertem Umfang, und stellten die Finanzierung der Reichsbehörden bis 1527 sicher. Kapitel 4 thematisiert den Esslinger Fürstentag vom Dezember 1526. Die Konzeption der Reichstagsaktenbände, ausschließlich die Reichstage zu dokumentieren ("strictissimo sensu"), wird hier aufgegeben. Dies schadet aber nicht dem Band, sondern ist eher als Abrundung der Ergebnisse des Speyerer Reichstages zu lesen. Wurden doch in Esslingen angesichts des Todes des ungarischen Königs bei Mohács bereits in Speyer diskutierte Maßnahmen zur beharrlichen Hilfe getroffen, ohne die Beschlussautorität des Reichstags zu übergehen.
Eindeutig liegt der Schwerpunkt des Bandes auf dem 3. Kapitel, welches die Vorbereitung, Durchführung und den Abschluss des Speyerer Reichstages 1526 dokumentiert. Eine Besonderheit sind sicherlich die Dokumente des sächsischen Kurfürsten Johann im Vorfeld des Reichstages (Nr. 86-94), die laut Rosemarie Aulinger in dieser Form bei keinem anderen Reichsstand überliefert sind. Interessant sind zudem die Berichte der Gesandten über das Reichstagsgeschehen, insbesondere in den Quartieren des sächsischen Kurfürsten und des hessischen Landgrafen (z.B. 212, 214). Die einen starken Zulauf verzeichnenden öffentlichen Predigten der Hofprediger Eisleben und Krafft sowie das ostentative Umgehen des freitäglichen Fleischverzehrverbotes sorgten im Umfeld des Reichstages offenbar für erheblichen Unmut. Ob allerdings wirklich 40.000 Menschen an zwei Tagen diese Predigten hörten, wie die Einleitung mit Verweis auf einen Bericht Hiltners an den Regensburger Rat angibt (99), darf allein schon wegen der logistischen Probleme bezweifelt werden. Gerne hätte die Rezensentin noch mehr über die Rückversicherungen einzelner Stände bei ihren theologischen und juristischen Beratern im Hinblick auf die im Zentrum stehende Glaubensfrage gelesen. Denn gerade anhand der Schreiben der Nürnberger Gesandten an ihren Rat wird deutlich, auf welch schmalem Grad sich die Reichsstädte bewegten, wenn es um die Abwägung zwischen theologischen und politischen Argumenten ging (z.B. 114, 211).
Die Reichstage von Augsburg und Speyer sind charakteristisch für jenes Phänomen, welches die Religionspolitik des Alten Reiches in der ersten Hälfte der Frühen Neuzeit kennzeichnet: Es vermochte erstens nur eine politische Handhabung der Religionsfrage und zweitens deren interimistische Lösung bis zur endgültigen Entscheidung durch ein Konzil die politische Ordnung im Reich aufrechtzuerhalten. Diesem Dilemma war auch die sogenannte Verantwortungsformel geschuldet, welche einen ebensolchen Kompromiss darstellte wie die Predigtklausel der früheren Reichstage. Die Reichsabschiede zu Nürnberg 1523 und 1524, Augsburg und Speyer 1525 und 1526 hoben zwar nicht das Wormser Edikt selbst auf, wie man es hin und wieder noch lesen kann, stellten aber bis zur endgültigen Entscheidung durch eine Nationalversammlung oder ein freies Konzil die Religionsausübung bedingt (Predigtklausel, Verantwortungsformel) in die Verfügungsgewalt der Stände. Insofern ist die neue Qualität, die dem Speyerer Reichstag diesbezüglich zugeschrieben wird, gar nicht so gravierend. Dafür spricht auch die Argumentation der protestierenden Stände auf dem Speyerer Reichstag 1529, die Predigtklausel und Verantwortungsformel stets miteinander verbindet, um die stringente Entwicklung der territorialen Freiheiten zu verdeutlichen, hinter der ein Verbot der reformatorischen Neuerungen durch die Bestätigung des Wormser Ediktes nicht mehr zurückbleiben dürfe. Dennoch kann sich die Forschung glücklich schätzen, dass nun die Akten der Reichstage von Augsburg und Speyer 1525 und 1526 dank des Engagements des Herausgebers, Eike Wolgast, sowie der gewissenhaften Bearbeitung durch Rosemarie Aulinger nach einer langen Odyssee endlich im Druck vorliegen.
Rosemarie Aulinger (Bearb.): Der Reichstag zu Augsburg 1525. Der Reichstag zu Speyer 1526. Der Fürstentag zu Esslingen 1526 (= Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Jüngere Reihe; Bd. V/VI), München: Oldenbourg 2011, 995 S., ISBN 978-3-486-59829-2, EUR 178,00
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