Heinz Buschkowsky (SPD) ist seit 2001 Bezirksbürgermeister von Neukölln, einem Berliner Bezirk mit 325.000 Einwohnern, von denen 41 % einen Migrationshintergrund haben. Neukölln ist zweigeteilt, der Norden umfasst das ehemalige Rixdorf, der Süden die ehemaligen Dörfer Britz, Buckow und Rudow. Im Süden entstand in den sechziger und siebziger Jahren das Neubaugebiet Gropiusstadt, in dem alle Wohnungen Toilette, Bad und Dusche sowie einen Balkon haben. Das war für die Einwohner des Nordens so attraktiv, dass viele dorthin umzogen. In die frei gewordenen Wohnungen im Norden zogen Einwohner mit Migrationshintergrund, von denen die meisten Türken und Araber sind. Das veränderte im Norden, in dem nun 65 % der Einwohner einen Migrationshintergrund haben, vollkommen die Sozialstruktur und das Stadtbild. Ehemalige Prachtstraßen wie die Karl-Marx-Straße, die Hermannstraße und die Sonnenallee sind nicht wiederzuerkennen. 79 % der Erziehungsberechtigten sind Bezieher öffentlicher Leistungen (Hartz IV u. a.). Der Bezug von Hartz-IV-Leistungen unter den jungen Menschen sei dort "eine völlige Normalität" (49), so Buschkowsky. Viele gäben als Berufsziel "Hartzer" an.
Die in Neukölln entstandenen Parallelgesellschaften charakterisiert Buschkowsky als geschlossene Stadtlagen, in denen sich "einzelne Ethnien selbst organisieren und ihr eigenes Dorf wiedererstehen lassen" (227). Die Deutschen werden als schwach bezeichnet, sie hätten niemanden, der sich für sie einsetze. Schrittweise weiche die deutsche Rechtsordnung zurück. So wurde die Vorschrift, dass die religiöse Trauung erst nach der standesamtlichen Eheschließung zulässig ist, aufgehoben, weil die Muslime "sich einen Dreck um die Vorschrift" scheren (58). Buschkowsky stellt sich klar auf die Seite des Rotterdamer Oberbürgermeisters Ahmed Aboutaleb: "Ich diskutiere mit niemandem über die Gesetze dieses Landes. Wem sie nicht gefallen, der kann sich gern ein anderes Land suchen, wo er mit ihnen besser zurechtkommt" (58). Ein offenes Bekenntnis zur Parallelgesellschaft gab dagegen der Bezirksbürgermeister von Kreuzberg ab: "Warum sollen Bürger mit bestimmtem Background nicht in einer Parallelgesellschaft leben, wenn wir in einer Gesellschaft mit nur Parallelgesellschaften leben? [...] Man sollte auch Arabern ihre Parallelgesellschaft gönnen" (58 f.).
Im Kapitel "Wie machen es andere?" berichtet Buschkowsky über Exkursionen eines sechsköpfigen Neuköllner Teams in sieben europäische Städte. In Rotterdam, das am stärksten beeindruckte, wurden "Interventionsteams" aus Vertretern der zuständigen Ämter und der Polizei gebildet, die nach störendem Verhalten der Bewohner zu suchen und ferner zu prüfen haben, ob die technischen Einrichtungen der Häuser intakt sind. Die Polizei geht dort drastisch vor: Jugendliche, die wiederholt "beim Zerkratzen der Scheibe in den Straßenbahnen oder beim Aufschlitzen der Polster erwischt wurden, erhalten Fahrverbot und dürfen zur Schule laufen. Ihr Bild hängt dann bei jedem Straßenbahnfahrer, damit er sie nicht übersieht" (164). Eine andere Maßnahme ist die Dezentralisierung der Staatsanwaltschaft, die in angemieteten Wohnungen arbeitet, und der Behörden in ressortübergreifenden Teams, die von den Behördenstandorten abgetrennt sind. Wenn Eltern von Grundschulkindern das Zeugnis nicht in der Schule abholen, erhalten sie keine Sozialunterstützung, solange es dort liegt.
Für die Neuköllner besonders wichtig war nach diesen Exkursionen die Erkenntnis, dass die kommunalen Stellen nur erfolgreich wirken können, wenn sie die "Versäulung" (198) aufgeben, ihre Tätigkeit aufeinander abstimmen und die relevanten Daten austauschen. Eine Verweigerungshaltung der Bewohner dürfe jedenfalls nicht sanktionslos bleiben.
In mehreren Kapiteln beschäftigt sich Buschkowsky mit den Kitas und den Schulen. Er zitiert mehrere Kita-Leiterinnen, die offen mit ihm sprachen. Eine von ihnen halte es für notwendig, dass Eltern, die ihr Kind vernachlässigen, Kindergeld und Hartz IV entzogen werde. Eine Schulleiterin, an deren Schule 90 % der Eltern Hartz IV beziehen, habe aufgehört, sich über die jeden Morgen vorfahrenden Autos noch Gedanken zu machen. Scharf kritisiert Buschkowsky die vom Berliner Senat herausgegebene Broschüre "Islam und Schule", in der von der gängigen schulischen Praxis zurückgewichen werde. Der Ramadan dürfe, so heißt es in der Broschüre, "natürlich" keinen Einfluss auf das Schreiben von Leistungstests haben, "man könne aber den Leistungstest so legen, dass er nicht in den Zeitraum des Ramadan fällt". Bei der Diskussion um Gleichberechtigung empfehle es sich, Schüler "aus eher traditionell eingestellten Elternhäusern" nicht moralisch zu überwältigen. Im Sexualunterricht möge man auf naturalistische Darstellungen verzichten und "stilisierte Graphiken verwenden" (271). Eine Schulleiterin habe sich darüber empört, dass die Broschüre "mit unseren gesellschaftlichen Werten nicht vereinbar" sei (271). Buschkowsky plädiert für eine Kindergartenpflicht ab dem 13. Lebensmonat und für Ganztagsschulen mit gestärkter Eigenverantwortung. Beides führe zur Ausbildung von Kindern aus bildungsfernen Unterschichten.
Buschkowsky beschreibt auch Erfolge bei der Integration durch die Zusammenarbeit aller betroffenen Ämter. Einige Beispiele in Stichworten: Die Rütli-Schule, an der unhaltbare Zustände herrschten, und das Albert-Schweitzer-Gymnasium wurden durch massive organisatorische und pädagogische Reformen zu erfolgreichen Leuchttürmen in der Bildungslandschaft Neuköllns. An Schulen mit massiven Übergriffen sei ein privater Wachschutz eingesetzt worden, es seien Schulstationen zur Betreuung einzelner Schüler durch ethnisch gemischte Sozialarbeiterteams eingerichtet worden. Als "Stadtteilmütter" würden Einwandererfrauen eingesetzt, die Problemfamilien besuchen.
Ein Bekenntnis Buschkowskys verdient besondere Beachtung: "Ich bin nicht bereit, barbarische Unkultur, die ich in einer zivilisierten Welt für immer verschwunden glaubte, plötzlich als normal und tolerabel zu akzeptieren" (360). Er wehrt sich dagegen, "auch im Zivilrecht gesellschaftliche Rückschritte unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit [zu] dulden" (361). Buschkowsky verurteilt Religionsfanatiker wie die Salafisten, die "scheinheilig Bücher Gottes und des Friedens verteilen, aber Polizisten angreifen und unsere demokratische Grundordnung zugunsten eines Gottesstaates abschaffen wollen" (360 f.). Letztlich bleibt der Autor beim Idealbild einer integrierten Gesellschaft und hat dafür den Ansatzpunkt bei den Kindern gesucht.
Der Rezensent weiß aus eigener Erfahrung, welchen Pressionen ein politischer Wahlbeamter ausgesetzt ist, der von der Parteilinie abweicht. Buschkowsky hat das in seinem Buch massiv getan, wofür es mehrere Erklärungen gibt. Er ist in Neukölln sehr populär, dieses Buch ist ein Riesenerfolg. Die von ihm geforderte Kindergartenpflicht, verbunden mit einem Erziehungsauftrag (école maternelle), und die Ganztagsschule sind sozialdemokratisches Gedankengut. Da er 2013 aus Altersgründen aus seinem Amt ausscheidet, muss er nicht um seine Wiederwahl fürchten. Obwohl Buschkowsky ein politisches Buch, keine wissenschaftliche Expertise vorgelegt hat (9), sollte er in einer neuen, überarbeiteten Auflage wichtige Zitate (so die Aussagen des Oberbürgermeisters von Rotterdam und des Bezirksbürgermeisters von Kreuzberg) belegen.
Heinz Buschkowsky: Neukölln ist überall, 7. Auflage, Berlin: Ullstein Verlag 2012, 397 S., ISBN 978-3-550-08011-1, EUR 19,99
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