Sich dem Phänomen des Kulturtransfers im mittelalterlichen Mittelmeerraum auf vielfältige Weise anzunähern, ist das zentrale Anliegen der deutsch-französischen Forschergruppe FranceMed ("La France et la Méditerranée. Espaces des transferts culturels"). Ihre Mitglieder veranstalteten in den vergangenen Jahren zusammen mit anderen Wissenschaftlern insgesamt vier Tagungen zu diesem Themenfeld, das sich bereits seit geraumer Zeit gesteigerter Aufmerksamkeit in der Forschung erfreut.
Der hier zu besprechende Band vereint die Beiträge der ersten Konferenz, die im Juni 2009 am DHI in Paris stattfand. Sie widmen sich vor allem der historiographischen Konstruktion kultureller Austauschprozesse in der mediterranen Region (9f.), wobei das Konzept des Kulturtransfers als "notion expérimentale" im Zentrum der Studien steht. In einer breit angelegten Einleitung (14-44) wird dazu das genannte Interpretationsmodell zunächst von anderen, ähnlichen theoretischen Annäherungen an kulturelle Austauschprozesse wie den Konzepten der Akkulturation, der "métissage" und Hybridität sowie der "Übersetzung" abgegrenzt und in seiner historischen Genese erläutert, ehe es selbst präzise definiert wird: unter Kulturtransfer fasst die Forschergruppe all jene Vorgänge zusammen, die in einer Vielzahl von Handlungen die Mobilität eines Kulturguts in Raum, Zeit und im soziokulturellen Rahmen initiieren, flankieren oder lenken (24). Zur Unterscheidung verschiedener Formen des in Übermittlung und Rezeption trennbaren Kulturtransfers wird neben der Materialität bzw. Immaterialität des jeweiligen Objekts, seiner Wandelbarkeit und seiner Mobilität den jeweiligen, auch nach ihrer Tätigkeit, Funktion und ihrem sozialen Status unterscheidbaren Akteuren in ihren sendenden, vermittelnden und rezipierenden Rollen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei sind die Offenheit, die Einbindung und die Motivation der Protagonisten des Transfers in ihren jeweiligen Abstufungen ebenfalls Teil der Analyse. Dies gilt insbesondere für den Rezipienten, der über die oft mit der Transformation eines transferierten Elements verbundene Aneignung erst für dessen Integration im neuen Kulturumfeld sorgt - oder diese eben verweigert. Insgesamt steht der hier verfolgte Ansatz damit im Einklang mit dem aus der historischen Komparatistik entwickelten Kulturtransfer-Ansatz, der der Rezeption und Aneignung als den steuernden Mechanismen grundsätzlich einen besonderen Stellenwert in der Analyse von Austauschprozessen einräumt.
Insgesamt neun Beiträge bringen diese Überlegungen im Folgenden zur Anwendung: Jocelyne Dakhlia führt die nur vereinzelt nachweisbare und dann nur in beschränktem Maße erfolgte Anwendung des "métissage"-Konzepts auf dessen enge Verbindung mit kolonialen Kontexten zurück und plädiert für dessen intensivere Nutzung statt der bislang in der Historiographie praktizierten Fokussierung auf die oben genannten binären Modelle (45-57). Für Aziz Al-Azmeh ist das Mittelmeer weder der Akteur noch das zentrale Objekt historischer Untersuchungen, zu dem ihn vor allem die kulturellen und politischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts gemacht hätten, sondern ein Raum, in den verschiedene Reiche, die ihren Schwerpunkt außerhalb des mediterranen Bereichs hatten, je nach Interessenlage hineinwirkten (58-71). In dieser Perspektive zergliedert sich die See und ihre Ufer in verschiedene Bereiche: daraus leiten sich schließlich Urteile ab, die anders als die jüngeren Forschungen zur spätantiken und frühmittelalterlichen Entwicklung des Gebiets die Brüche stärker als die Verflechtungen betonen (vgl. 69). Ob man mit der Bezeichnung von Justinians sogenannter Reconquista als "anachronistic irredentism" die Ziele des Kaisers treffend umreißt (66), erscheint zweifelhaft; die Kaiserkrönung Karls des Großen erwies sich als folgenreicher für die Beziehung der Karolinger zum Mittelmeerraum, als der Autor annimmt (68). Der Beitrag von Jenny Rahel Oesterle skizziert anschaulich, wie sich die Beschäftigung der deutschen Mediävistik mit der Geschichte des Mittelmeerraums bedingt durch die politische Entwicklung insbesondere nach 1945 und die zunehmende Globalisierung mitsamt der damit einhergehenden gesteigerten internationalen Vernetzung der deutschen Wissenschaftler in den vergangenen Jahren sowie durch vorhandene institutionelle Rahmen in Gestalt der Universitätsstrukturen und der Auslandsinstitute stetig wandelte (72-92). Jan Rüdiger plädiert für die Verwendung des Terminus "Thalassokratie" im Zuge zweier unterschiedlicher Zugänge zu einer politischen Geschichte der "espaces maritimes" im Allgemeinen und dem Mittelmeer im Besonderen, die entweder einen vergleichenden oder einen stärker analytischen Ansatz verfolgen (93-103). Der Auseinandersetzung der Geschichtsschreibung mit der Kontaktzone zwischen Islam und Christentum im Spanien des 8. bis 13. Jahrhunderts widmet Philippe Sénac seine Ausführungen, in denen er die (auch regional) unterschiedlichen Bezeichnungen für Grenze sowie die Menschen im Grenzraum in den Blick nimmt (104-119). Abbès Zouache stellt in seinem Überblick über die Kreuzzugsforschung, der auch israelische Publikationen einschließt, die westliche und die östliche Historiographie gegenüber, bietet dabei ein anschauliches Bild insbesondere von der durch aktuelle Ereignisse bedingten Sicht der nahöstlichen Geschichtsschreibung auf die Vergangenheit und bedauert zu Recht, dass man - von wenigen Ausnahmen abgesehen - aufgrund fehlender Sprachkenntnisse im Westen von der arabischsprachigen Forschung kaum Notiz nimmt (120-147). Im Rahmen seiner Aufarbeitung des Techniktransfers in der Historiographie informiert Yassir Benhima über die Themen, die die Forschung im Zusammenhang mit den islamischen Gebieten, darunter insbesondere al-Andalus, beschäftigt haben, und zeigt Desiderate und Perspektiven für die weitere Auseinandersetzung mit diesem fruchtbaren Forschungsfeld auf (148-161). Pierre Bonte schildert die Sicht der Anthropologen auf das Mediterraneum (162-181), bevor Isabel Schäfer schließlich ausgehend vom römischen mare nostrum-Konzept die modernen Bemühungen um eine engere Verbindung zwischen den südlichen Mittelmeerregionen und Europa über den Barcelona-Prozess und die "Union pour la Méditerranée" bis hin zu den Entwicklungen im "arabischen Frühling" nachzeichnet (182-193).
Die chronologisch weitgespannten, von antiken bis zu zeitgenössischen historiographischen Konzepten reichenden Beiträge bieten mit ihren vielfältigen Zugängen zum Thema weit mehr als nur eine Bibliographie raisonnée, die über Forschungsstand und Desiderate informiert. Sie führen dem Leser immer wieder die Zeitgebundenheit der geschichtswissenschaftlichen Perspektiven in politischer, aber auch institutioneller Hinsicht vor Augen und zeigen bisweilen Neuansätze auf, die die Forschungsdiskussion zum Kulturtransfer und seinen Rahmenbedingungen im Mediterraneum bereichern werden. Für die Erschließung der großen Zahl der Themen und untersuchten Geschichtswerke wäre ein Register zweifellos von Vorteil gewesen. Dessen Fehlen mindert den Gewinn aus der Lektüre indes nicht, und mit Interesse erwartet man die Folgebände.
Rania Abdellatif / Yassir Benhima / Daniel König u.a. (éds.): Construire la Méditerranée, penser les transferts culturels. Approches historiographiques et perspectives de recherche (= Ateliers des Deutschen Historischen Instituts Paris; Bd. 8), München: Oldenbourg 2012, 194 S., ISBN 978-3-486-70476-1, EUR 24,80
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