Peter W. Rose hat ein eigenwilliges Buch geschrieben, das nicht nur einen Überblick zur archaischen Gesellschaftsgeschichte darstellt, sondern auch ein engagiertes Plädoyer für die Brauchbarkeit marxistischer Ansätze. Die Kernthesen hat Rose bereits in seinem 2009 im "Companion to Archaic Greece" erschienen Artikel "Class" dargelegt, den man auch als Kurzfassung des nun erschienenen Buches lesen kann.
In seiner Einleitung (1-55) erläutert Rose seinen marxistischen Ansatz, wobei er unter "Marxismus" nicht nur das Œuvre von Marx selbst, sondern auch alle auf ihm aufbauenden "marxistischen" Denker fasst. Roses Zugang zu diesem gewaltigen Konvolut ist pragmatisch: "Since the work both of the founders and the followers is, like any serious body of theory, full of ambiguities, errors, and divergent developments, I feel free to pick and choose what makes most sense to me in what I know of this body of thought" (14). Das hat etwas Beliebiges, macht aber umgekehrt das Theoriegebäude flexibel und damit fast unangreifbar. Den diversen Kritiken am Marxismus hält Rose denn auch vor, dass sie die Theorie zu stark simplifizieren beziehungsweise dass es innerhalb des Marxismus durchaus Ansätze gibt, die den Einwänden Rechnung tragen. Viel Kritik sieht er auch schlicht politisch motiviert. Die Frage, wo der heuristische Mehrwert eines marxistischen Ansatzes gegenüber anderen Theorieangeboten liegt, gerät bei dieser Apologie etwas aus dem Blick, fehlt aber nicht ganz: Roses zentrales Argument ist, dass Klassen und Klassenkämpfe ein Modell bieten, das historischen Wandel nicht nur beschreiben, sondern auch erklären kann. Hierzu unterscheidet Rose zwischen "verborgenen" und "offenen" Klassenkämpfen - lediglich letztere werden den Akteuren selbst bewusst und betreffen die Ideologie, mit der die herrschenden Zustände legitimiert werden (und zwar gegenüber Ausbeutern wie Ausgebeuteten). Ausbeutung führt also immer zu Klassenkampf, aber nur selten ist dieser offen: So wurden Sklaven in der Antike zwar ausgebeutet, doch der Klassenkampf blieb verborgen und stellte die herrschende Ideologie nicht in Frage. Einen offenen Klassenkampf sieht Rose dagegen im archaischen Griechenland, wo freie Kleinbauern unter "indirekter Ausbeutung" litten, weil eine Aristokratie ihnen gutes Ackerland vorenthielt. Hier habe es tatsächlich ein Klassenbewusstsein und einen Klassenkampf gegeben, der zu Veränderungen in der Ideologie führte.
Diese marxistische Interpretation der Archaik entfaltet Rose in sieben chronologisch geordneten Kapiteln. Das erste Kapitel (56-92) widmet er den Dark Ages und der Entstehung der Polis. Rose geht von einer relativ egalitären, proto-demokratischen Gesellschaft aus, in der einzelne Big Men ihre Führungsstellung durch Leistung und Überzeugung rechtfertigen müssen. Mit der Zunahme materiellen Reichtums im Verlauf des 9. und 8. Jahrhunderts entwickelt sich daraus eine Klassengesellschaft mit einer Aristokratie. Die Polis und die Polis-Ideologie sind Mittel, mit denen diese Aristokratie ihre politische und ökonomische Führungsrolle absichert und legitimiert.
Die folgenden Kapitel untersuchen, welche Spuren diese vor allem aus der Archäologie abgeleiteten Entwicklungen in den literarischen Quellen hinterlassen haben. In einer differenzierten Analyse von Ilias (93-133) und Odyssee (134-165) macht Rose plausibel, wie die Epen unterschiedliche Wertvorstellungen und Konflikte spiegeln: In der Ilias stehen die meritokratischen Ideale der Dark Ages in einer Spannung zu den Ansprüchen der neuen Aristokratie, und in der Odyssee wird aristokratischer Müßiggang mit dem listenreichen Gewinnstreben seefahrender Händler und Kolonisten kontrastiert. Einen offenen Klassenkampf sieht Rose hier noch nicht. Erst bei dem im folgenden Kapitel (166-200) behandelten Hesiod, sei ein sich ausbildendes Klassenbewusstsein der "small and middling farmers" zu erkennen, die sich gegen die Übergriffe der Aristokratie wehren. Dass sich Hesiods Kritik auf Rechtsprechung und nicht auf Ausbeutung bezieht, ist ein Problem; Rose argumentiert aber mit Hinblick auf die solonische Krise, dass auf die von Hesiod kritisierte Monopolisierung der Rechtsprechung ökonomische Ausbeutung gefolgt sei.
Diese Krise ist dann Thema des fünften Kapitels (201-266), wobei Rose Solon im Kontext der älteren Tyrannis untersucht: Es handle sich in beiden Fällen um eine Reaktion der "middling farmers" auf die Ausbeutung durch die Aristokratie. Folgen zeigt dieser Klassenkampf vor allem auf der Ebene der Ideologie: Gerechtigkeit und Polisbewusstsein wurden gefördert und Solons Zensusordnung bewirkte eine Öffnung des zuvor abgeschlossenen Erbadels. Eine Bodenreform blieb jedoch aus. Diese Entwicklung kontrastiert Rose mit Sparta (267-316), wo sich eine stabile oligarchische Ideologie und damit eine Alternative zur Demokratie etablieren konnte. Das letzte Kapitel (317-363) widmet sich der Entstehung der athenischen Demokratie, deren ideologische Wurzeln Rose in der Big Man-Gesellschaft der Dark Ages sieht: Es war dieses alte Bedürfnis nach Mitsprache, auf das der in aristokratischen Fehden agierende Kleisthenes reagierte. Doch auch hier wird primär der ideologische Apparat, nicht aber die ökonomische Basis verändert. Landknappheit und Ausbeutung sei dennoch ein zentrales Movens gewesen, was Rose damit begründet, dass unmittelbar nach 507 eine auf Landgewinn ausgerichtete Expansion einsetzte, mit der es der Aristokratie gelang, ökonomische Spannungen nach aussen zu kanalisieren.
Rose zeichnet ein vielschichtiges Bild einer von Konflikten geprägten Entwicklung. Vielem wird man zustimmen und auch gerne konzedieren, dass "Klasse" gegenüber dem Allerweltsbegriff "Elite" eine höhere analytische Schärfe aufweist. Bei der Frage, ob es ein Klassenbewusstsein und offene Klassenkämpfe gegeben habe, bleiben freilich Zweifel: Die ökonomische Ausbeutung der "middling farmers" bleibt - wie diese selbst - schwer fassbar und hängt an einer keineswegs unkontroversen Interpretation der solonischen Dichtung. Umgekehrt ist die Vorstellung, dass diesen Kleinbauern ein geschlossener Erbadel gegenüberstand, in den letzten Jahren mit guten Gründen in Zweifel gezogen worden. Dass Rose die nicht-englische Forschung neueren Datums weitgehend unberücksichtigt lässt, macht sich hier besonders bemerkbar. Man wird dem Buch aber nicht gerecht, wenn man einzelne Punkte kritisiert, denn was Rose vor allem bietet, ist eine intensive Auseinandersetzung mit der (englischen) Forschung zu zahlreichen Spezialproblemen und Einzelaspekten. Immer wieder nimmt er auf andere Forscher Bezug, schildert seine Leseeindrücke und ist akribisch bemüht, intellektuelle Genealogien nachzuzeichnen. Sätze wie: "I believe, however, following the insight of Finley quoted by Lewis, that it was essentially what Hodkinson dubbed the 'social and ritual system' (...) that constructed (...) an extraordinarily disciplined and compliant dêmos (...)" (280) sind einigermaßen typisch. Der Stringenz der Argumentation ist das selten förderlich und wie Rose zu seinen Überzeugungen kommt, ist nicht immer klar. Dennoch lohnt es sich, diesem sehr persönlich gefärbten Streifzug durch die archaische Forschungslandschaft zu folgen - denn auch wenn man nicht alle Urteile teilt, erfährt man doch eine ganze Menge.
Peter W. Rose: Class in Archaic Greece, Cambridge: Cambridge University Press 2012, XIV + 439 S., ISBN 978-0-521-76876-4, GBP 70,00
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