Der vorliegende Tagungsband zur Religionsgeschichte Ostmitteleuropas im 19. Jahrhundert bezieht sich mit seinem Titel "Zwischen Glaube und Nation?" auf die Auseinandersetzung in der Geschichtswissenschaft zum 19. Jahrhundert als "Zweitem konfessionellen Zeitalter". Diese zuerst von Olaf Blaschke vertretene, in der Historiografie Ostmitteleuropas insbesondere von Martin Schulze Wessel unter Verweis auf die Gebundenheit des Religiösen, etwa im nationalen Kontext, stark modifizierte These bildet für die Autorinnen und Autoren den Rahmen ihrer Studien.
Hans-Jürgen Bömelburg betont in seinem Einführungsbeitrag die Komplementarität moderner Vergemeinschaftungs- und Formierungsprozesse im religiösen und nationalen Bereich. Diese ergänzende Perspektive zum "nation-building" bringt er auf den Begriff der Kirchenwerdung, des "church-building". Am Katholizismus in Polen zeigt Bömelburg den Einfluss von Marienfrömmigkeit und Herz-Jesu-Kult auf die Herausbildung einer eigenen Volkskirchentradition und einer katholisch imprägnierten nationalen Identität. Deutsch-lutherische volkskirchliche Bemühungen in den baltischen Provinzen machen demgegenüber die Abhängigkeit von sozialen und ethnischen Zusammenhängen deutlich. Gesellschaft und Kirche waren hier viel zu sehr ständisch-hierarchisch geprägt, als dass eine übernationale "Volkskirche" hätte entstehen können. Die ethnische Aufspaltung der protestantischen Kirche nach dem Ersten Weltkrieg gründete daher nicht nur in einem anwachsenden Nationalismus. Auch das exkludierende Profil einzelner Religionsgemeinschaften habe in der konfessionellen Gemengelage Ostmitteleuropas Konflikte gefördert.
Anja Wilhelmi und Ragna Boden gehen in ihren Beiträgen auf das Verhältnis von Religion und Religiosität sowie Familie und Gender in den deutschbaltischen Provinzen ein. Wilhelmi zeigt den Einfluss, den das ständische Gesellschaftsmodell auf die Religionsausübung hatte. Ort für die religiöse Wissensvermittlung, Religiosität und Frömmigkeit war das familiäre Zuhause. Kirchgänge waren verpönt, machten sie doch den Kontakt zu den "niederen" Schichten notwendig. Die Rollen bei der Religionsausübung in den Familien waren geschlechtsspezifisch verteilt. War der Vater für Bibellektüre und damit religiöse Wissensvermittlung zuständig, begleitete die Mutter die Kinder bei Andacht und Gebet. Aufgrund dieser Rollenmuster könne von einem Verlust männlicher Dominanz bei der Religionsausübung, wie er verschiedentlich für Westeuropa konstatiert worden ist, nicht die Rede sein. Dass wiederum der religiöse Diskurs nicht auf ein bestimmtes Gendermodell festgelegt war, weist Boden am Beispiel der Diskussionen unter den Deutschbalten über die Erwerbstätigkeit der Frau nach. Sie knüpft an die Religionssoziologie von Talcott Parsons an, der Religionen sowohl ein kulturerhaltendes als auch ein gesellschaftsveränderndes Potenzial zuspricht. Boden zeigt, dass mit der konservativen, wortlautgetreuen Lesart der Bibel, wonach die Frau gegenüber dem Mann eine untergeordnete, lediglich dienende Funktion habe, eine Rechtfertigung von weiblicher Erwerbstätigkeit aus dem Geist der protestantischen Ethik konkurrierte. Auch bei einer positiven Einstellung zur Frauenarbeit stand allerdings deren (Mehr-)Wert für die Familie im Vordergrund und nicht - anders etwa als bei der Frauenbewegung in der Tschechoslowakei - die Gleichheit der Geschlechter.
Sebastian Rimestad greift das Thema des Tagungsbands anhand der Konversionswellen zur Russisch-Orthodoxen Kirche sowohl in den Ostseeprovinzen und Nordwestprovinzen auf. Soziale Missstände führten Mitte des 19. Jahrhunderts in den Ostseeprovinzen zu einer Konversionswelle von der Lutherischen hin zur Russisch-Orthodoxen Kirche. Trotz der ursprünglichen Privilegien der Lutherischen Kirche wurden die unkontrollierten Konversionen nun als Mittel zur Russifizierung eingesetzt. In den Nordwestprovinzen wurde die Russifizierung durch Konversion sogar behördlich forciert. Dies führte allerdings zu einer Stärkung des Katholizismus und polnischen Nationalbewusstseins. Obwohl die Religions- und Nationalpolitik von den weltlichen Behörden ausgegangen war, schadete deren Illiberalität vor allem dem Ansehen der russischen Orthodoxie.
Der preußische Staat verfolgte in seinen östlichen Landesteilen ebenfalls eine Politik der Nationalisierung. Als Teil dieser Germanisierungspolitik in der Provinz Posen bewertet Stefan Dyroff in seinem Beitrag den protestantischen Kirchenbau, den Preußen über Bauaufsicht und Finanzierungszuschüsse wesentlich förderte. Die architektonische Motivik der protestantischen Kirche lässt demgegenüber kein vordringliches Interesse am Nationalitätenkampf erkennen, sondern eher das Ziel, einen eigenen modernen konfessionellen Stil zu entwickeln. Unterstützt von preußischen Baubeamten wurde die Provinz Posen nach 1900 daher verstärkt zum Experimentierfeld neuer Ausdrucksformen.
Als Experiment ganz anderer Art zeichnet Marlene Klatt die von Berlin ausgehende, nach Osteuropa hineinwirkende jüdische Aufklärung nach. Die Verfasserin widerspricht in ihrem Beitrag zunächst der These, Städte in Nordostmitteleuropa wie Warschau, Wilna oder Königsberg seien Zentren der jüdischen Aufklärung gewesen. Anders als in Westeuropa sahen sich die jüdischen Aufklärer hier einem überaus diversifizierten religiösen Feld gegenüber, das von der Orthodoxie bis hin zu Mystik und Messianismus reichte. Letztlich konnte sich die Haskala nicht behaupten, auch weil die jeweilige staatliche Gesetzgebung den rechtlichen Sonderstatus der Juden länger als anderswo aufrechterhielt. Religion und Nation gehen auch für Klatt eine komplementäre Verbindung ein, wenn sie darauf hinweist, dass die Haskala manche der späteren politischen Formationen des osteuropäischen Judentums, welche sich um die Anerkennung als Nationalität bemühten, wesentlich prägte.
Eine transnationale und interkonfessionelle Herangehensweise verfolgt Ewelina Sokołowska. In ihrem Forschungsbericht geht sie unter anderem auf die Verankerung von ermländischen Bauernvereinen, die konfessionsunabhängig organisiert waren, in der katholischen Soziallehre ein. Der abschließende Beitrag von Jochen Enders widmet sich der wichtigsten Zeitschrift der polnischen Freidenker, "Myśl Niepodległa", die ein liberales und antiklerikales, aber nicht notwendigerweise religionsfeindliches Programm verfolgte. Mit den Freidenkern ging insbesondere die polnische Arbeiterschaft eine Allianz ein.
Die Beiträge der überwiegend jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler machen das Potenzial des zugrunde gelegten Forschungsansatzes deutlich, Religion und Nation stärker zueinander in Beziehung zu setzen. Allerdings werden die möglichen Querverbindungen von Religion und Religiosität zu modernen Nationalisierungsprozessen nicht von allen Autoren ausgeschöpft. Interessanterweise verweist der Band indirekt noch zusätzlich auf einen Aspekt, der von den Autoren fast durchgehend als wichtiger historischer Faktor berührt wird, jedoch noch eine größere konzeptionelle Aufmerksamkeit verdient: die Bedeutung der sozialen Frage für die verflochtene Geschichte von Religion und Nationalismus.
Markus Krzoska (Hg.): Zwischen Glaube und Nation? Beiträge zur Religionsgeschichte Ostmitteleuropas im langen 19. Jahrhundert (= Polono-Germanica; 6), München: Martin Meidenbauer 2011, 171 S., ISBN 978-3-89975-250-2, EUR 26,90
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