Als athenischer Politiker, Reformer, Gesetzgeber und Dichter hat Solon in den letzten Jahren eine große Aufmerksamkeit in der altertumswissenschaftlichen Forschung gefunden. Zu nennen sind insbesondere die von J.H. Blok und A.P.M.H. Lardinois 2006 herausgegebene profunde historisch-philologische Forschungsbilanz, C. Mülkes Übersetzung und Kommentar der politischen Elegien und Iamben (2002) sowie Elizabeth Irwins Studie zu "Solon and Early Greek Poetry" (2005). Noussia-Fantuzzi, die bereits mehrere Beiträge zum poetischen Werk Solons und anderer frühgriechischer Dichter vorgelegt hat, fügt diesen Studien nun einen umfangreichen Kommentar zu den poetischen Fragmenten Solons hinzu.
Das Werk gliedert sich in drei Teile, eine umfangreiche Einleitung (1-78), die Edition der Texte (79-124) und den Kommentar (125-525), an die sich eine umfangreiche Bibliographie und ein Quellen-, Namen- und Sachregister anschließen.
In der übersichtlich gegliederten Einleitung behandelt Noussia-Fantuzzi Solons Lebenslauf, Solon als Weiser, Politiker und Gesetzgeber, die Überlieferungssituation seiner Dichtungen, die Beziehung zum Corpus Theognideum und stilistische Eigenarten wie die Verwendung von Gleichnissen und Metaphern. Bereits in diesem Teil beweist Noussia-Fantuzzi ihre systematische und akribische Herangehensweise und ihre Zurückhaltung im Urteil. Viele antike Nachrichten zu Solon akzeptiert sie als historisch zutreffend, doch mögen Aussagen über die Geburt und Bestattung auf Salamis, seine Zugehörigkeit zu den vermögensmäßig Mittleren oder seine Reisen aus den Gedichten herausgesponnen sein. Minutiös arbeitet sie einzelne Schichten der antiken Solonrezeption heraus, untersucht wort- und motivgeschichtlich spätere Quellen darauf hin, wie getreu sie aus den Elegien direkt oder indirekt zitiert haben. Zu skeptisch scheint mir ihre Position hinsichtlich der Überlieferung solonischer Gesetze zu sein, da sie grundlegende Veränderungen im Laufe des 5. Jahrhunderts annimmt. Noussia-Fantuzzis Berechnungen zum Umfang der Gesetze Solons und zur Zahl der Personen, die von den Ertragsmengen der Angehörigen einzelner Schatzungsklassen ernährt werden konnten, vermitteln anschaulich die politische, rechtliche und soziale Bedeutung seiner Reformen. Hinsichtlich des angeblich solonischen Rats der 400 folgt sie dem 'optimistic view' von P.J. Rhodes, sieht die Theten von Anfang an als Beteiligte an den Volksversammlungen und schätzt die Macht des Areopags als weitgehend ungebrochen bis zu den Reformen des Ephialtes ein. Ausführlich und transparent präsentiert sie die unterschiedlichen Forschungsmeinungen zu den Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise, erörtert die Problematik der seisáchtheia, eines Begriffs, den sie für solonisch hält, und der hektēmoroi, der wahrscheinlich nicht für Solon reklamiert werden kann. Berücksichtigung finden dabei auch die aus den Quellen rekonstruierbaren Abhängigkeitsformen der verschuldeten Bauern und die Frage nach den hóroi, die ihrer Meinung nach Grenzsteine waren (siehe dazu auch 468 f.). Immer wieder aber mahnt Noussia-Fantuzzi angesichts der wenigen Quellen zur Vorsicht, diskutiert philologische und historische Argumente, die für oder gegen einzelne Forschungspositionen sprechen, und gelangt dann zu einem abgewogenen Urteil.
Ebenso überzeugend und wissenschaftlich solide wie die Behandlung der historischen Fragen präsentiert Noussia-Fantuzzi die philologischen Aspekte des poetischen Werks. Ausgangspunkt sind auch hierbei die Überlieferungssituation und das Problem der Authentizität. Sie knüpft dies an die Frage, vor welchem Publikum, ob öffentlich oder im engeren Kreis des Symposions, die Elegien und Iamben vorgetragen wurden. Insgesamt schätzt Noussia-Fantuzzi die Zuverlässigkeit der Überlieferung hoch ein, da die Elegien auf eine spezifische historische Situation bezogen sind. Gegen die ihrer Meinung nach zu kritische Position von E. Stehle verweist sie auf unterschiedliche Bedingungen in der mündlichen Überlieferung von Epos und Elegie, von geschlossenen Kompositionen im Gegensatz zum assoziativ aneinandergefügten Corpus Theognideum. Inhaltlich aber gebe es zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem theognideischen Corpus, etwa hinsichtlich der schädlichen Folgen politischer Konflikte (stáseis) oder der Machtgier der Reichen. Zu erklären seien diese Übereinstimmungen dadurch, dass sich das Corpus an den Dichtungen Solons orientiert habe. Um Überzeugungskraft zu gewinnen, habe Solon - anders als Tyrtaios - nicht auf historische Exempla oder Mythen zurückgegriffen, sondern verwendete Gleichnisse und Metaphern, die ihm eine thematische Vertiefung und eine emotionale Aufladung erlaubten.
Der Abdruck der Texte folgt der Reihenfolge der zweiten Auflage von B. Gentili und C. Prato, und auch hinsichtlich der Textvarianten orientiert sie sich bis auf wenige eigene Korrekturen an dieser Ausgabe. Zu den Fragmenten 1-40 Gentili-Prato2 fügt sie das in diese Ausgabe nicht aufgenommene Fragment 45 West2 hinzu.
Mit dem umfangreichen Kommentar hat Noussia-Fantuzzi ein für die weitere Forschung zu Solons politischem und poetischem Werk unverzichtbares Standardwerk vorgelegt, auf das Historiker wie Philologen dankbar zurückgreifen werden. Zu jedem Fragment bietet sie zunächst eine Einleitung, in der sie auf die Überlieferung und die antike Rezeption eingeht sowie auf die innere Struktur, die Frage einer politischen oder unpolitischen Ausrichtung und auf Bezüge zu anderen Texten. Es folgen dann Kommentare zu einzelnen Textabschnitten und zu Einzelversen. Ausführlich werden zu einzelnen Motiven, formelhaften Wendungen oder Begriffen Parallelen aufgeführt und Textvarianten besprochen, wobei auf mögliche spätere Bedeutungsverschiebungen hingewiesen wird. "Émphylos" oder "stásis" lassen sich z.B. als nicht der früheren Dichtung entnommene, sondern als der zeitgenössischen politischen Sprache entlehnte termini technici nachweisen. Auch bei den Einzelkommentaren wird die Forschungsliteratur umfassend referiert und diskutiert. Neben philologischen Fragen behandelt sie zahlreiche historisch relevante Aspekte, z.B. die für den Adel typischen Wertvorstellungen, Solons ethische Sicht auf den verpflichtenden Charakter des Reichtums, die Unvermeidbarkeit göttlicher Strafen, die Position Solons zur Einnahme von Salamis, verschiedene Kategorien von Land, über die in der Zeit der Krise diskutiert wurde, oder die Frage, wen Solon mit den hēgemones dēmou konkret meinte.
Mit den eingangs genannten Werken und Noussia-Fantuzzis Kommentar liegt nun eine umfassende und solide wissenschaftliche Grundlage zu Solon als Dichter und politischem Reformer vor. Noussia-Fantuzzi bietet einen umfassenden Überblick über alle mit Solon in Zusammenhang stehenden Fragen und eine willkommene Synthese bisheriger Forschungen. Viele Streitpunkte werden angesichts der Quellensituation nicht lösbar sein, doch die in der Einleitung und im Kommentar vorgelegte Forschungsbilanz wird lange Zeit ihren Wert behalten.
Maria Noussia-Fantuzzi: Solon the Athenian, the Poetic Fragments (= Mnemosyne. Supplements - History and Archeology of Classical Antiquity; Vol. 326), Leiden / Boston: Brill 2010, XIV + 579 S., ISBN 978-90-04-17478-8, EUR 162,00
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