Jan Philipp Sternberg untersucht die politische und mediale Wahrnehmung von Auswanderung aus der Bundesrepublik Deutschland und richtet den Blick auf eine oft vergessene Seite des Themas Migration. Genauer gesagt möchte der Autor die migratorische Realität in der Nachkriegszeit in den Mittelpunkt rücken, nach Denkmustern im politischen wie medialen Umgang mit Auswanderung suchen und nach dem politischen Einfluss dieser Denkmuster fragen. Besonderes Gewicht legt Sternberg auf die Perzeption in den Arenen Politik und Medien, wobei er sich vor allem für den Verlauf von Debatten, ihre öffentliche Darstellung, die medialen Themensetzungen sowie die Akteure interessiert. Er beschränkt sich auf eine spezielle Wanderungsbewegung, nämlich die Auswanderung von Deutschen aus der Bundesrepublik. Als Quellengrundlage dienen Diskussionen um Auswanderung in der Politik; dazu gehören Memoranden und Referentenentwürfe, Berichte aus Tages- und Wochenzeitungen, Reportagen aus Magazinen und Frauenzeitschriften, Aufsätze aus Fachzeitschriften und aus der Wirtschaftspresse sowie Berichte staatlicher, kirchlicher und caritativer Organisationen.
Im ersten Kapitel schildert Sternberg die Wanderungsbewegungen zwischen 1945 und 1961 und steckt den Rahmen seiner Untersuchung ab. Aus dem statistischen Material kann er drei Phasen der Nachkriegswanderung aus Deutschland ablesen: 1945 bis 1950/51, 1951/52 bis 1957 und 1958 bis 1961. Im zweiten Kapitel stellt der Autor - nicht zuletzt anhand der Auswanderungsgesetzgebung - die Traditionslinien deutscher Auswanderungspolitik, die Akteure auf diesem Feld sowie die bundesdeutsche Migrationspolitik vor. Sternberg zeigt, dass sich die Auswanderungspolitik nach der Reichsgründung von 1871 nie zu einem zentralen Politikfeld entwickelt hat; erst in den 1950er Jahren betrieb die Bundesrepublik eine aktive Auswanderungspolitik. Sternberg stützt seine Studie also zeitlich tief ab und führt dem Leser vor Augen, dass es seit 1848 eine Konstante gab, nämlich die Furcht der Politik, eine offene Diskussion des Themas Auswanderung könne der Emigration Vorschub leisten und volkswirtschaftlich wie bevölkerungspolitisch unerwünschte Folgen nach sich ziehen.
Die Medien der Bundesrepublik berichteten zwar durchaus über das Thema Auswanderung (Sternberg bringt Beispiele aus Wochenzeitungen, Magazinen und Zeitschriften), doch die mediale Präsenz spiegelte die numerische Bedeutung der Nachkriegsauswanderung nicht wider. Sternberg führt diese Diskrepanz darauf zurück, dass die Auswanderung als potenzielle Gefahr für den Wiederaufbau galt und die Medien sowohl auf die Politik Rücksicht nahmen als auch mit einer restriktiven Informationspolitik zu kämpfen hatten.
Im dritten und vierten Kapitel widmet sich der Autor "epochenübergreifenden[n] Denkmuster[n] und Debatten des 'Redens über Auswanderung'" sowie den "spezifische[n] Debatten der bundesdeutschen Nachkriegszeit". Dabei greift er Denkmuster und Topoi heraus, die sowohl die Traditionen der deutschen Auswanderungspolitik und -publizistik - Überbevölkerung, Facharbeitermangel, Siedlung und Überbevölkerung - als auch die Besonderheiten der Nachkriegsgesellschaft widerspiegeln. Deutschland galt nach 1945 nicht nur als "überbevölkert", sondern als "abnorm überbevölkert" (93). Frankreichs Außenminister Georges Bidault erkannte darin eine Bedrohung - schließlich konnten Militarismus und Revanchismus wieder aufleben - und zeigte sich bereit, deutschstämmige Einwanderer in großem Stil aufzunehmen. Jedoch wurde dieser Vorschlag in der Bundesrepublik abgelehnt.
Erstaunlich früh kam es zu einer Verbindung der Themenfelder Auswanderung und Arbeitsmarkt, befürchteten doch Politiker, Journalisten und Experten einen Facharbeitermangel, der den Aufschwung gefährden könnte. Die hohen Arbeitslosenzahlen und die wirtschaftlichen Probleme in den frühen 1950er Jahren standen dieser Perzeption nicht entgegen. Auswanderung galt offenbar grundsätzlich als Verlust.
Auswanderung und Siedlung waren in der deutschen Debatte lange Zeit zwei Seiten derselben Medaille, und auch nach 1949 prägte diese Vorstellung zunächst die Auswanderungspolitik der Bundesrepublik. Im Mittelpunkt des Interesses standen Südamerika, Kanada und Frankreich, manchmal auch Afrika. Realisieren ließen sich solche Pläne nicht, doch dass sie überhaupt noch erwogen wurden (bevor sie ab Mitte der 1950er Jahre zunehmend absurd wirkten), zeigt die Wirkungsmächtigkeit bestimmter politisch-intellektueller Traditionen auf.
Im vierten Kapitel analysiert Sternberg vier für die ersten Nachkriegsjahre typische Debattenstränge: die Diskussion um das Grundrecht auf Auswanderung im Rahmen der Verfassungsberatungen im Parlamentarischen Rat, die Frage nach dem Zusammenhang von Auswanderung und Vertriebenen- bzw. Flüchtlingsproblematik, die Auswanderung von Frauen sowie die Anwerbungen junger Deutscher für die französische Fremdenlegion.
Jan Philipp Sternbergs sehr lesenswerte Studie, die durch einen ausführlichen Ausblick bis in die 2000er Jahre abgerundet wird, schließt eine Lücke in der deutschen Migrationsforschung. Der Leser profitiert in hohem Maße von den Zusammenhängen, die der Autor in der Dreiecksbeziehung von Politik, Medien und Auswanderung aufzeigt. Zudem lassen die vielen offenen Fragen Perspektiven für weitere Forschungen erkennen.
Jan Philipp Sternberg: Auswanderungsland Bundesrepublik. Denkmuster und Debatten in Politik und Medien 1945-2010 (= Studien zur Historischen Migrationsforschung; Bd. 26), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, 255 S., ISBN 978-3-506-77109-4, EUR 34,90
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