Die Finanzkrise in der Europäischen Union hat gezeigt, wie komplex Außenpolitik in einer schnelllebigen und global vernetzten Welt geworden ist. Außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen werden für den Außenstehenden immer schwerer nachvollziehbar. Wer exemplarisch nachempfinden möchte, dass dies kein ganz neues Phänomen ist und wie kompliziert und facettenreich diese Entscheidungsprozesse in einer parlamentarischen Demokratie sein können, dem sei die Lektüre von Gill Bennetts Buch "Six Moments of Crisis" empfohlen. Bennett hat sich Großes vorgenommen. Auf knapp 175 Seiten möchte die Verfasserin dem Laien erklären, wie britische Außenpolitik funktioniert und ihn zugleich für die Komplexität außenpolitischer Entscheidungen sensibilisieren. Dies gelingt ihr aufgrund ihrer langjährigen Tätigkeit als Historikerin im Foreign & Commonwealth Office, zuletzt als Chief Historian, hervorragend.
Bennett nimmt sechs außenpolitische Krisen im Ost-West-Konflikt aus der Perspektive der Exekutive in den Blick. In drei der Krisen musste die Regierung auf Ereignisse reagieren und Entscheidungen über Krieg und Frieden unter großem Zeitdruck fällen. So erstens im Juli 1950, als die Labour-Regierung die Entsendung von Bodentruppen in den Koreakrieg beschloss, zweitens als die Regierung Eden in der Suezkrise im Juli 1956 die Rückeroberung des Suezkanals und den Sturz des ägyptischen Präsidenten Nasser anvisierte und drittens als die Regierung Thatcher im April 1982 die Entsendung der Flotte zu den von Argentinien besetzten Falkland-Inseln befahl. Diese Entscheidungen markierten den Ausgangspunkt einer ungewissen außenpolitischen Zeit. Die drei anderen Beispiele zeigen dagegen, wie die Exekutive auf grundlegende und beratungsintensive Probleme britischer Außenpolitik reagierte. Diese Beschlüsse betrafen erstens die Beitrittsverhandlungen zur EWG im Juli 1961, zweitens den Abzug britischer Streitkräfte östlich von Suez im Januar 1968 sowie drittens die Ausweisung der Spionage verdächtigter sowjetischer Diplomaten im September 1971.
Aus dem Untertitel des Buches lässt sich die Methode ableiten. Ohne den Leser mit langatmigen Ausführungen über das britische Regierungssystem zu behelligen, nimmt ihn die Autorin mit in den Kabinettssaal. Zwei "golden rules" (4) gibt sie dem Leser mit auf den Weg: 1) Regierungsentscheidungen werden grundsätzlich von allen Kabinettsmitgliedern getragen. 2) Selbst in schweren Krisen beschäftigen sich Minister nie ausschließlich mit nur einem Problem. Bennett benutzt zur Entfaltung ihrer dicht geschriebenen Momentaufnahmen die Cabinet Minutes, in denen die Ergebnisse und der grobe Verlauf einer Kabinettssitzung festgehalten werden. Diese historischen Schnappschüsse erweckt sie dann mit Hilfe der Cabinet Secretary's Notebooks, die den Diskussionsverlauf meist sehr viel detaillierter wiedergeben, sowie Memoiren von Beteiligten auf fesselnde Art und Weise zum Leben. Zusammen mit den scharf konturierten Persönlichkeitsskizzen werden die diskutierenden Kabinettsmitglieder und die angespannte Atmosphäre im Kabinett geradezu physisch greifbar.
Die erste Fallstudie beleuchtet die Entscheidung der Regierung Attlee am 26. Juli 1950 zur Entsendung britischer Truppen in den Koreakrieg, die Verteidigungsminister Shinwell als "Militarily not very desirable. Psychologically inevitable" (11) bezeichnete. Vor dem Hintergrund eines angestrebten Ausbaus des Wohlfahrtstaats und einer massiven imperialen Überdehnung seit dem Zweiten Weltkrieg musste dieser Schritt widersinnig erscheinen. Doch nach der Vermessung der geistigen Landkarten und Informationshorizonte der Kabinettsmitglieder wird schnell deutlich, wie viele unterschiedliche Faktoren bei dieser Entscheidung eine Rolle spielten. Letztlich überwog die Notwendigkeit der Pflege der von Churchill so genannten "special relationship" zu den USA im Kalten Krieg alle anderen Faktoren. Angesichts der Schwäche des Empires und dem dennoch erhobenen Anspruch, Weltmacht, Atommacht und Wohlfahrtsstaat sein zu wollen, erschien dieser demonstrative Schulterschluss geboten. Bereits bei der Lektüre des ersten Fallbeispiels wird die größte Stärke des Buches sichtbar. Gill Bennett lässt in jedem Fallbeispiel - neben den ganz spezifischen Problemen - immer auch die großen Leitmotive britischer Außenpolitik nach 1945 sichtbar werden, die im Kern aus dem Spagat erwuchsen, dass Großbritannien selbst unter den Bedingungen des Kalten Krieges noch gleichzeitig "welfare-state" und "warfare-state" sein wollte.
Eine Grundkonstante blieb die starke wirtschaftliche und militärische Abhängigkeit von den USA. Anhand der Suezkrise im Juli 1956 und dem Falklandkrieg im April 1982 zeigt Bennett, warum der militärische Alleingang ohne die USA im ersten Fall in einem weltpolitischen Fiasko endete und im zweiten Fall zum Erfolg führte. Damit macht sie dem Leser deutlich, dass die britisch-amerikanische "Sonderbeziehung" keineswegs Nibelungentreue zu den USA bedeutete und zum anderen, dass es keine einfache Antwort auf die Frage gibt, wann London den Schulterschluss mit Washington suchen sollte und wann nicht.
Wie sehr die Erfordernisse des modernen Wohlfahrtsstaates Großbritanniens Verhältnis zum Empire und zur europäischen Integration prägten, zeigt Bennett anhand der Entscheidung der Regierung Macmillan, Beitrittsverhandlungen zur EWG aufzunehmen, und des Entschlusses der Wilson-Administration, die britischen Streitkräfte östlich des Suezkanals abzuziehen. Die Entscheidung zu Beitrittsverhandlungen war letztlich nüchternem britischem Pragmatismus geschuldet. Unter dem Eindruck der zweiten Berlinkrise stehend, fürchtete man im Kabinett, dass eine zu große Distanz zum Kontinent im Ost-West-Konflikt sicherheitspolitisch und ökonomisch nachteilig sein könne. Ebenso nüchtern stellte Schatzkanzler Roy Jenkins 1968 mit Blick auf Großbritanniens imperiale Präsenz fest, es sei Zeit "to cut our coat according to our cloth" (108). Allerdings barg die zügige Aufgabe dieser Präsenz ein schwer kalkulierbares Risiko, da die politische Stabilität der betroffenen Staaten im Persischen Golf oder in Singapur nach dem Rückzug nicht garantiert werden konnte.
Schließlich zeigt Bennett am Beispiel der Entscheidung der Regierung Heath, 105 der Spionage verdächtigte sowjetische Diplomaten auszuweisen, wie einflussreich einzelne Persönlichkeiten sein können. Die Entscheidung war riskant, da Konsultationen mit den Bündnispartnern aus Geheimhaltungsgründen nicht möglich waren und die Reaktion Moskaus ungewiss war. Die treibende Kraft hinter diesem spektakulären Schritt war Außenminister Sir Alec Douglas-Home, den Harold Macmillan einmal als "iron painted to look like wood" (130) beschrieb. Douglas-Home profitierte dabei von seinem großen Erfahrungsschatz als langjähriger Kabinettsminister und ehemaliger Premierminister.
Zwar bieten die Fallbeispiele dem Sachkenner kaum neue Einblicke. Allerdings gelingt es Bennett glänzend, dem Leser quellennah und auf dem neuesten Forschungsstand die Komplexität außenpolitischer Entscheidungsprozesse vor Augen zu führen. Nur Clement Attlee hat die Problematik des Entscheidens noch kürzer auf den Punkt gebracht: "It is judgment which is needed to make important decisions on imperfect knowledge in limited time". [1]
Anmerkung:
[1] Clement Attlee: In the Driver's Seat, in: Frank Field (ed.): Attlee's Great Contemporaries: The Politics of Character, London / New York 2009, 151.
Gill Bennett: Six Moments of Crisis. Inside British Foreign Policy, Oxford: Oxford University Press 2013, XVI + 223 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-958375-1, GBP 20,00
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