Patrick Montague macht in seiner Studie über die Funktion des Lagers Kulmhof (Chełmno) beim nationalsozialistischen Judenmord deutlich, dass die Ermordung von mindestens 1,5 Millionen Juden in den Vernichtungslagern Bełżec, Sobibór und Treblinka ohne die Erfahrungen aus dem Warthegau anders verlaufen wäre. Hier lässt sich am besten erkennen und trotz systematischer Aktenvernichtung seitens der Täter nachweisen, dass der serielle, tagtägliche Massenmord an der jüdischen Bevölkerung - was das Personal, das eingesetzte Material und die Methoden angeht - aus der planmäßigen Ermordung von Heimbewohnern und Anstaltsinsassen im eroberten Polen hervorging. Montague stützt sich auf einschlägige Archivalien in Polen, Deutschland und Israel, die Aussagen in bundesdeutschen und polnischen Ermittlungen und Gerichtsverfahren gegen einige der Täter und auf zahlreiche Zeitzeugenaussagen, Erinnerungen und Briefe. Zu den eindrucksvollsten Abschnitten zählen die Ausführungen über die Fluchtgeschichten von Überlebenden.
Das Lager wurde auf Betreiben des Reichsstatthalters und Gauleiters Arthur Greiser (1897-1946) eingerichtet mit dem Zweck, die "Judenfrage" in dem von ihm regierten Warthegau durch Massenmord zu lösen. All seine Bemühungen, die über 400 000 Juden aus dem Reichsgau abzuschieben, hatten seit 1939 nur geringen Erfolg gehabt. Daher suchte und erhielt er - wohl im Sommer 1941 - die Rückendeckung Hitlers für den Vernichtungsplan. Mit der Umsetzung des Vorhabens wurden Kriminalkommissar Herbert Lange (1909-1945) und sein Sonderkommando beauftragt, das bislang Kranke und Gebrechliche ermordet hatte. In und bei dem Lager Kulmhof töteten SS-Männer und deutsche Polizisten in Zusammenarbeit mit der Gettoverwaltung in Litzmannstadt (Łódź) und anderen Stellen rund 150 000 Juden in sog. "Gaswagen", davon etwa 140 000 zwischen Dezember 1941 und März 1943. Die Leichen wurden in einem nahegelegenen Wald in riesigen Massengräbern zunächst verscharrt und geraume Zeit später, um die Spuren der Verbrechen zu verwischen, verbrannt.
Greisers regionales Mordunternehmen war zwar nicht Teil der "Aktion Reinhardt" im Generalgouvernement, gehört aber in die Versuchsphase, an die sich die "Endlösung" unmittelbar anschloss: Von den "Euthanasie"-Morden mithilfe von Gaswagen in den Jahren 1940/41 war es ein kleiner Schritt zur Ermordung der als unproduktiv betrachteten jüdischen Bevölkerung des Warthegaus mit dem gleichen Verfahren, und dieses Stadium trennte wiederum nur ein kleiner Schritt von der Mordpraxis in den Vernichtungslagern mit stationären Gaskammern. Ende 1941 liefen beide Unternehmen nebeneinander her.
Im Anhang schildert der Verfasser die Entwicklung der Gaswagen, und er stellt die Ergebnisse seiner Nachforschungen über den weiteren Lebensweg von über 40 deutschen Tätern, von acht polnischen Helfern und sechs jüdischen Überlebenden zusammen. Ihm ist es gelungen, die Identität des wichtigsten Zeugen, Szlama Winer (1911-1942), dessen Aussage sich unter den Dokumenten im Untergrundarchiv des Warschauer Gettos befindet, endlich zweifelsfrei nachzuweisen (241, Anmerkung 13).
An anderer Stelle sind Ergänzungen oder Korrekturen angebracht: Bei dem "Chef der Gesundheitsabteilung" in Kalisz (43) handelt es sich um den an verschiedenen "Sondereinsätzen" beteiligten, unter der Tarnbezeichnung eines "Leiters der Zentralstelle für Krankenverlegungen" tätigen Walter Grabowski (1896-1945?). Jan Kozielewski, genannt Karski (1914-2000), besuchte im Sommer 1942 auf geheimer Mission nicht das Vernichtungslager Bełżec (90), ehe er zur polnischen Exilregierung nach London zurückkehrte, sondern das Durchgangsgetto Izbica (70 km südöstlich von Lublin). In Hadamar wurden ab 1941 nicht nur Menschen "aus Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen" (12), sondern aus Heilanstalten der preußischen Provinzen Hessen-Nassau, Westfalen, Hannover und der Rheinprovinz sowie der Länder Hessen, Baden und Württemberg ermordet. Die Vernichtungslager Bełżec und Sobibór entstanden 1942 keineswegs "von Grund auf neu" (7), vielmehr gingen sie aus einem seit 1939 bestehenden Arbeitslager beziehungsweise aus einem Betriebsgelände des "Polnischen Staatsunternehmens für die Imprägnierung von Eisenbahnschwellen" hervor.
Unverständlich ist, warum der in Warschau lebende Verfasser behauptet, "Poles [...] would certainly be outraged if the Auschwitz camp was referred to as the Oświęcim camp", wurden doch in Polen seit Einrichtung des Staatlichen Museums im Juli 1947 bis in die 1990er-Jahre die Bezeichnungen "Państwowe Muzeum w
Oświęcimiu" oder "Państwowe Muzeum Oświęcim-Brzezinka" ganz offiziell verwendet [1], und sie sind der mittleren und älteren Generation unter diesem Namen noch durchaus geläufig.
Solche Einwände schmälern nicht das Verdienst des Verfassers, der eine kundige, umfassende und insgesamt sehr gründliche Darstellung [2] über das nationalsozialistische Vernichtungslager im Warthegau vorgelegt hat. Daraus wird einmal mehr klar, dass 1941/42 von einem Zivilisationsbruch kaum die Rede sein kann, denn der Weg in den Abgrund war statt von hochdramatischen Entscheidungen eher von einer Vielzahl nur gradueller Richtungsänderungen geprägt, mit denen die konkreten Handlungen vor Ort in den Gesamtplan des Genozids eingebunden wurden.
Anmerkungen:
[1] Siehe Jonathan Huener: Auschwitz, Poland and the Politics of Commemoration. 1945-1979, Athens / OH 2003.
[2] Alle diese Kriterien erfüllte noch nicht Shmuel Krakowski: Das Todeslager Chelmno/Kulmhof. Der Beginn der "Endlösung", Göttingen 2007; siehe meine Rezension in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 58 (2009), 262f.
Patrick Montague: Chelmno and the Holocaust. A History of Hitler's First Death Camp, London / New York: I.B.Tauris 2012, XV + 291 S., ISBN 978-1-8488-5722-3, GBP 45,00
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