Der Autor, Antonio Varsori, lehrt an der Universität Padua und ist einer der renommiertesten Zeithistoriker in Italien. Er untersucht in seiner vorliegenden Studie den Zeitraum, in dem Italiens politische Situation, so wie sie sich seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hatte, von Grund auf erschüttert wurde. Aus deutscher Perspektive wird bisweilen übersehen, dass Italien unter den europäischen Partnern dasjenige Land war, dessen Basiskoordinaten durch den Fall der Berliner Mauer und das Ende der bipolaren Welt am stärksten in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Nicht zuletzt die deutsch-italienischen Beziehungen waren dadurch einem erheblichen Wandel ausgesetzt. Dazu ist in den letzten Jahren von wissenschaftlicher und journalistischer Seite, unter anderem vom Deutschlandexperten Gian Enrico Rusconi, viel publiziert worden.
Varsori greift mit dem Titel "Italien und das Ende des Kalten Kriegs" weiter aus. Es geht ihm um eine umfassende Rekonstruktion der ungeheuer ereignisreichen drei Jahre 1989 bis 1992, in denen Italien, eingebettet in die rasanten Transformationen und Neujustierungen des globalen Kontextes, seine sogenannte "Ersten Republik" verabschiedete und, eher ungeplant als strategisch beabsichtigt, den Schritt in die "Zweite Republik" vollzog, die dann maßgeblich von Silvio Berlusconi bestimmt wurde. Der Autor zielt dabei auf den Nachweis der dichten Interdependenz von italienischer Innenpolitik und Weltpolitik, nicht nur Europapolitik. In der "Einleitung" diskutiert er die italienische fachwissenschaftliche Literatur. Es folgen fünf Kapitel zu den Themen "Der Golfkrieg", "Die israelisch-palästinensische Frage und die Beziehungen zur PLO", "Die Jugoslawien-Krise", "Die Albanische Notlage" und "Der Vertrag von Maastricht und die Krise der Ersten Republik". Eine bilanzierende Zusammenfassung sowie eine umfangreiche Bibliographie, die hauptsächlich italienische und englischsprachige Titel umfasst, schließen das Werk ab.
Varsori beschreibt die miterlebte Geschichte sine ira et studio und leuchtet mit kühler Distanz die schmalen Handlungsspielräume seiner Protagonisten aus. Man findet bei ihm keinen nostalgischen Rückblick auf die verlorene vermeintliche Zentralstellung Italiens in Europa vor der deutschen Wiedervereinigung. Entsprechend neutral rekonstruiert er den reservierten Umgang der italienischen Regierung mit den sich seit dem Herbst 1989 überschlagenden Ereignissen in Deutschland. Aber er zeigt eben auch, dass die Deutsche Frage nur eine der gewaltigen politischen Herausforderungen war, die die Kollapsjahre der Ersten Republik prägten. Wie aus dem Untertitel "Die Außenpolitik der Regierungen Andreotti 1989 bis 1992" hervorgeht, steht im Mittelpunkt seiner Analyse jener Politiker, der wie kein Zweiter als "typisch" für die politische Kultur Italiens bis in die frühen Neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts galt: Giulio Andreotti, der 2013 verstorben ist. Varsori hat als erster systematisch Andreottis Nachlass ausgewertet, der sich im Archiv des Istituto Luigi Sturzo im Rom befindet. Seine Darstellung kommt einer behutsamen Rehabilitierung des auch in Deutschland wegen des Verdachts der Beziehungen zur Mafia verdächtigen christdemokratischen Staatsmannes gleich. Denn er zeigt Andreotti als undogmatischen, flexiblen Politiker, der viel Ansehen im Ausland genoss und der sein Land durch einen historischen Zäsurmoment navigiert hat, in dem das Zusammentreffen von chronischen Schwachstellen auf nationaler Ebene (besonders im Bereich der Wirtschaft) und revolutionären Machtverschiebungen auf internationaler Ebene Italien zu zerreißen drohte. Die alte politische Ordnung der "Republik der Parteien", die in Andreotti einen ihrer herausragenden Vertreter besaß, ist darüber zusammengebrochen. Nach Varsori war das weder unvermeidlich noch schicksalhaft, wohl aber das rational nachvollziehbare Produkt außergewöhnlicher, einander potenzierender Dynamiken, die einem bis dahin stabil wirkenden System den Boden entzogen.
Teil dieser beschleunigten Bewegung war die Neupositionierung Italiens im europäischen Kontext. Unvorstellbar schien es angesichts des starken proeuropäischen Konsenses der italienischen Gesellschaft, dass Italien den Vertrag von Maastricht nicht mitzeichnet. Dieses Ziel mit Mühe und Not erreicht zu haben, würdigt Varsori als Verdienst der alten Regierungsmannschaft um Andreotti. Aber er konstatiert auch, dass der ökonomische und politische Preis à la longue nur schwer berechnet werden kann. In seiner Rekonstruktion wird der geschilderte Übergang zum Lehrstück für die Ohnmacht der politischen Eliten, denen es trotz Mahnungen und Warnungen nicht gelang, Italien wirtschaftlich Maastricht-reif zu präparieren oder umgekehrt die Maastricht-Kriterien den italienischen Leistungsmöglichkeiten anzupassen. So heißt es in einem IWF-Bericht vom Herbst 1990, den Varsori zitiert: "Italien hat wenig Zeit, um sich auf die Erfordernisse einzustellen, die sich aus der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ergeben. Es scheint unvorstellbar, dass ein Land, das die WWU so aktiv unterstützt hat und an allen wichtigen Schritten zur europäischen Einigung beteiligt war, aus dem Kreis der Nationen ausgeschlossen wird, die zum nächsten Schritt der Wirtschafts- und Währungsunion übergehen, oder dass es beschuldigt werden könnte, die Währungsunion zu verzögern. Das kommende Jahr ist entscheidend. Wenn der Fortschritt in den beiden Schlüsselbereichen der öffentlichen Haushalte und der Gehälter- und Preisbegrenzung zu langsam ist, dann wird es schwierig, für den Stichtag 1994 gewappnet zu sein." (207)
Andreotti hatte dies ebenso luzide diagnostiziert, als er auf dem Parteitag der Democrazia Cristiana im September 1990 sagte: "Wir müssen endlich die alte Angewohnheit loswerden, zu denken, dass sich die Probleme durch öffentliche Verschuldung lösen lassen. Nach Jahrzehnten einer solchen Politik stehen wir jetzt mit dem Rücken zur Wand. [...] Wir befinden uns an der Schwelle zum 'Europa der Zwölf', geeint in einem Währungssystem. Falls wir Ende 1992 wie in der heutigen Lage ohne ausgeglichenen Haushalt sind, ist Italien der Grund (oder einer der Gründe), daß die Einigung nicht stattfindet." (203)
Bei den Verhandlungen auf dem Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion, schreibt Varsori, hätte es einer starken italienischen Präsenz bedurft. Aber Anfang des Jahres 1991 wurde die Position der Regierung Andreotti schwächer, und zwar aus außenpolitischen Gründen, die insbesondere mit der unklaren italienischen Haltung bezüglich der Teilnahme am Golfkrieg und mit dem Ausbruch der schweren Krisen auf dem Balkan zu tun hatten, mehr noch aber aus innenpolitischen Gründen im Zusammenhang mit der hoch umstrittenen Politik der öffentlichen Ausgaben. Die internationalen Zweifel an Italiens Fähigkeit, sich wirtschaftlich und finanzpolitisch auf den gemeinsamen europäischen Markt einzustellen, schränkten die Handlungsfähigkeit der politischen Klasse weiter ein. So gelangt der Autor zu dem plausibel begründeten Fazit, dass die Unfähigkeit, den im Vertrag von Maastricht formulierten Kriterien zu entsprechen und sie politisch durchzusetzen, einen der Faktoren darstellt, die direkt zum Ende der sogenannten Ersten Republik in Italien geführt haben. Deren Führungsschicht sah sich außerstande, europäische Ambitionen und ökonomische Anforderungen miteinander zu versöhnen und sich dafür politische Gefolgschaft zu sichern. Sie überließ nolens volens die Federführung der italienischen Integration in die Euro-Zone den Fachexperten aus Diplomatie und Finanzpolitik, die auf europäischer Ebene großes Ansehen genossen, wie Carlo Azeglio Ciampi, Guido Carli, Tommaso Padoa-Schioppa und Mario Monti. Ihrem proeuropäischen Engagement setzt Varsoris unsentimentales Buch zum Schluss ein kleines Denkmal.
Antonio Varsori: L'Italia e la fine della guerra fredda. La politica estera dei governi Andreotti (1989-1992) (= Saggi; 786), Bologna: il Mulino 2013, 272 S., ISBN 978-88-15-24425-3, EUR 23,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.