sehepunkte 14 (2014), Nr. 6

Ruth Mazo Karras: Sexuality in Medieval Europe

Die Erforschung mittelalterlicher Sexualitäten ist schon seit langem kein Tabubruch mehr. Sie hat ihren festen Platz innerhalb von Kultur-, Mentalitäts- und Kirchengeschichte und zahlreichen anderen Forschungsfeldern. Die Diskussion um John Boswells Buch Christianity, Social Tolerance and Homosexuality und das Erscheinen von Michel Foucaults Geschichte der Sexualität lösten Anfang der 80er-Jahre eine Debatte über Ansätze zur Historisierung von Sexualität aus, deren Impulse weit über das eigentliche Themenfeld hinaus gingen und sich letztlich auf alle Geisteswissenschaften ausgewirkt haben. Die inzwischen weitgehend überwundene Spaltung der Forschergemeinde in Essentialisten (die davon ausgehen, dass Sexualität und sexuelle Orientierung dem Menschen innewohnende transhistorische Eigenschaften sind) und Konstruktionalisten (die postulieren, dass Sexualität allein als soziales Konstrukt zu verstehen ist und dass moderne Definitionen und Kategorisierungen von Sexualität keinesfalls in die Vergangenheit oder in andere Kulturräume übertragbar sind) hat nicht nur zu wüster Polemik und durch unverdaulichen Jargon verdorbenen Texten geführt, sondern vor allem, letztlich unabhängig vom jeweils eingenommenen Standpunkt, zu einer Flut wichtiger neuer Forschungsergebnisse.

Sexuality in Medieval Europe. Doing unto Others stellt einen Versuch dar, aus all dieser neueren Forschung eine Synthese zu bilden und ein Gesamtbild mittelalterlicher Sexualität zu entwerfen. Die Verfasserin entschied sich dafür, sich aus den theoretischen Debatten großenteils herauszuhalten und der Leserin (bzw. dem Leser, der im Folgenden immer mitgemeint ist) nicht die eigens zur Theoretisierung der Sexualgeschichte erfundene, versuffixte Sprache (mit all ihren -isms, -ivities, -acities, -ings etc.) aufzubürden.

Als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen modernen Wahrnehmungsformen von Sexualität und denen des Mittelalters postuliert Ruth Mazo Karras eine strukturelle Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Sexualität wird (im allgemeinen) von Männern getan und geschieht (im allgemeinen) Frauen: Medieval people, for the most part, understood sex acts as something that someone did to someone else (3). Auch wenn diese Dichotomie in manchen Fällen die Geschlechtergrenzen überschreitet, ist sie doch im Sinne von aktiv/passiv bzw. penetrierend/penetriert, machtvoll/machtlos in fast allen Beschreibungen von Sexualität und Körperlichkeit als Subtext vorhanden, der bei der Interpretation unserer Quellen immer mitgedacht werden muss. Als Ausgangspunkt und "Lesehilfe" ist diese Grundannahme sinnvoll. Manche andere von Karras' Prämissen sind hingegen problematisch - zum Beispiel diejenige, dass "die Kirche" Sexualität grundsätzlich und per se als sündig angesehen und als lustfreien reproduktiven Akt innerhalb der Ehe lediglich toleriert habe, oder dass Keuschheit, in Analogie zu modernen Sexualitäten, als sexuelle Orientierung verstanden werden könne.

Die Prämissen, dass medieval people keine modernen Kategorien überzustülpen sind, dass sich individuelle (vor allem literarische) Beschreibungen von Wertesystemen und Verhaltensmustern nicht unbedingt verallgemeinern lassen (12) und dass mittelalterliches Christentum auch im Hinblick auf Sexualität unterschiedliche Sichtweisen zuließ (13), sind leider im Rest des Buchs nicht konsequent umgesetzt. Die "mittelalterlichen Menschen", die alles mögliche wissen, glauben, denken und tun, und "die Kirche", die alles mögliche bestimmt, verbietet, verfolgt und unterdrückt, tummeln sich als handelnde Subjekte auf fast jeder Seite von Karras' Buch. Der fachlich geschulten Leserin mag es hierbei leicht fallen zu relativieren und zu kontextualisieren; bei nicht-Experten und nicht-Expertinnen (und Studenten und Studentinnen) mag dies leicht zur Bestätigung von Klischees und zu einer unhistorischen Sichtweise auf das Mittelalter führen. Besonders problematisch wird es zum Beispiel, wenn Karras den Eindruck vermittelt, Heilige wären eine exakt beschreibbare Gruppe. Die Idee, dass es sich bei Heiligkeit um eine Eigenschaft oder eine Art Berufsbeschreibung handelt, ist Studienanfängern und Studienanfängerinnen manchmal schwer auszureden - genauso wie die Idee, dass alle Heiligen ein corpus incorruptum haben (198).

Hilfreich wäre es gewesen, gleich zu Beginn zu betonen, dass das Mittelalter, und insbesondere mittelalterliche Diskurse zur Sexualität, Fortpflanzung, Geschlechterdifferenzen, Moral etc. nicht nur von historischen Entwicklungen geprägt, sondern durch und durch inkohärent sind (was natürlich nicht nur für das Mittelalter gilt). Dass im Mittelalter nichts wirklich zusammenpasst, ist der Grund, warum diese Periode als Forschungsfeld so viel Spaß macht.

Karras teilt ihre Studie nach einer ausführlichen Einleitung, die den Stand der post-Boswell Debatten zusammenfasst und ihren gemäßigt konstruktionalistischen Standpunkt erläutert sowie eine Beschreibung gängiger Quellen und Interpretationsprobleme liefert, in vier Themenbereiche ein: die Sexualität der Keuschheit, die Sexualität der Ehe und die Sexualitäten von Frauen und Männern, die sich außerhalb der Ehe manifestieren. Sie bewegt sich damit also vom Gepriesenen zum Verbotenen und situiert die Ehe in der Mitte. Zahlreiche Einzelaspekte, wie der Zölibat, monastische Keuschheit, kultische Reinheit, Inzest (im Sinne von Ehe zwischen Blutsverwandten), Prostitution und Promiskuität, männliche und weibliche Homosexualität, gleichgeschlechtliche Liebe und Freundschaft, sind den großen Themen untergeordnet und fassen zumeist den jeweiligen Stand der Forschung zusammen, wodurch sich das Buch als Nachschlagewerk zu bestimmten Aspekten mittelalterlicher Sexualität verwenden lässt. Ein im Rahmen einer Synthese kaum vermeidbares methodologisches Problem ist die Gewichtung von Exempel und Evidenz. Aus der literarischen Beschreibung einer Freundschaft zwischen zwei Rittern lässt sich nicht das Wesen der Artusliteratur ableiten, geschweige denn eine homoerotische Grundgeartetheit des mittelalterlichen Rittertums. Trotz seines immensen Einflusses ist eine Aussage von Thomas von Aquin nicht damit gleichzusetzen wie "die Kirche" über Sexualität dachte. Aus einem satirischen misogynen fabliaux lässt sich nicht notwendigerweise ableiten wie "der mittelalterliche Mensch" über Frauen dachte. Karras ist sich dieses Problems zumeist bewusst, gleitet aber doch allzu häufig ab in eine Synthese des Anekdotischen. In einigen Fällen verwendet die Autorin die Begiffe obviously und clearly allzu freigebig und postuliert damit Dinge, die sich möglicherweise gewinnbringend hinterfragen ließen. So wäre ich mir zum Beispiel nicht sicher, ob die Ehe für medieval people tatsächlich grundsätzlich die auf der Hand liegende Option war (8, 75ff.).

Auch wenn dies nicht immer sichtbar ist, mag es der Autorin vermutlich vor allem darum gehen, durch Einzelbeobachtungen neue Fragestellungen und Hypothesen zu entwickeln, gängige Sichtweisen infrage zu stellen und neue Einsichten zu entwickeln. Karras' Buch stellt in erfrischend traditioneller Weise das bereits Vermutete dar und wer sich daran macht, die Quellen gegen ihre Feststellungen zu lesen, hat das Buch richtig verstanden.

Die Tatsache, dass Sexuality in the Middle Ages sich den Ansprüchen feministischer Geschichtsforschung verpflichtet fühlt und die Vielfältigkeit von Sexualitäten und die Präsenz gleichgeschlechtlichen Begehrens konsequent und gleichwertig mitdenkt, ist erfreulich. Über mittelalterliche Sexualität, Moral und die strukturelle Unterdrückung von Frauen und sexuellen Minderheiten lässt sich nicht 'neutral' erzählen. Allerdings mag es vom emanzipatorischen Standpunkt aus vielleicht effektiver sein, die subversiven Seiten mittelalterlicher Sexualitäten auszuleuchten anstatt sich überwiegend im sicheren Fahrwasser der unterstellten Repression zu bewegen. Dass Karras immer wieder Verbindungen zur modernen Sichtweisen zur Sexualität herstellt, ist nachvollziehbar und wichtig, wobei sie gelegentlich in einer Weise vereinfacht, die für nicht-amerikanische Leserinnen möglicherweise missverständlich ist und wenig hilfreiche Klischees bekräftigt. Es ist eben nicht so, dass "die Amerikaner" den Computern ihrer Stadtbibliotheken Filterprogramme aufzwingen, die konsequent alle Hühnerbrüste (=breast) und Hündinnen (=bitch) wegzensieren (200). So schlimm sind "die Amerikaner" auch wieder nicht.

Ein großes Problem, das weniger auf die Autorin selbst als auf den Verlag zurückgeht, besteht darin, dass vermutlich keinerlei Lektorat stattgefunden hat und all jene Flüchtigkeitsfehler, stilistischen Unsauberkeiten, sprachlichen Ungenauigkeiten, Zeitinkonsistenzen, unlogischen Konjunktionen etc., die sich im Schreibprozess - zumal unter Zeitdruck - unvermeidlich einstellen, im Text stehengeblieben sind und die Lektüre mitunter schmerzhaft machen. Sätze, wie But it does mean that the history of such desires belongs as part of the history of sexuality (so der Schlusssatz des letzten Kapitels zur männlichen Homosexualität, 192) oder Of course, medieval medical thought, like any of the other bodies of work discussed here, changed over time, especially with the influence of Arabic on Latin medical writers in the central Middle Ages (14) oder For a relationship or a text or an image, to be erotic does not require that it have genital contact as its goal (20) oder In Florence, Italy, for example, the low birth rate was one reason given for he establishment in 1403 of the Ufficiali dell'Onestà (Office of Honesty) to set up and regulate a municipal brothel (87) hätten ein anständiges Lektorat mit Sicherheit nicht überlebt. Sie sind leider keine Einzelfälle. Größere und kleinere Unglücke dieser Art finden sich auf fast jeder Seite des Buchs. Die Zweitauflage wäre eigentlich eine günstige Gelegenheit gewesen, das Lektorat nachzuholen.

Dessen ungeachtet ist Sexuality in Medieval Europe schon ob seiner Materialfülle (die leider, vermutlich nach Vorgaben des Verlages, leider allzu spärlich annotiert ist) ein wichtiges Buch, das - vielleicht gerade durch die kritische Auseinandersetzung mit vielen dort entwickelten Ideen - zukünftige Forschung inspirieren wird. Dies mag allerdings nicht unbedingt für das folgende Einzelergebnis in Karras' Zusammenfassung gelten: Medieval people would be much less likely to see representations of sex acts, but they would be much more likely than modern ones to witness the actual performance of those acts. The vast majority of medieval people, after all, were rural dwellers who would be familiar with the behavior of barnyard animals, if only roosters and hens (199).

Anmerkung: Die auf dieser Seite enthaltene Empfehlung, das Buch bei einem Online-Warenhaus zu erwerben, wird nicht von mir unterstützt.

Rezension über:

Ruth Mazo Karras: Sexuality in Medieval Europe. Doing unto others, Second edition, London / New York: Routledge 2012, X + 235 S., ISBN 978-0-415-69389-9, GBP 22,99

Rezension von:
Albrecht Diem
Department of History, Syracuse University, Syracuse, NY
Empfohlene Zitierweise:
Albrecht Diem: Rezension von: Ruth Mazo Karras: Sexuality in Medieval Europe. Doing unto others, Second edition, London / New York: Routledge 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 6 [15.06.2014], URL: https://www.sehepunkte.de/2014/06/22044.html


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