sehepunkte 14 (2014), Nr. 7/8

Olaf Jessen: Verdun 1916

"Nun sind wir mitten drin in diesem ungeheuerlichsten aller Kriegstage. Die ganzen französischen Linien sind durchbrochen. Von der wahnsinnigen Wut und Gewalt des deutschen Vorsturmes kann sich kein Mensch einen Begriff machen, der das nicht mitgemacht hat. Wir sind im wesentlichen Verfolgungstruppen. Die armen Pferde! Aber einmal mußte dieser Moment ja kommen, in dem alles eingesetzt wird; aber daß es gelang (und es wird sicher noch weiter gelingen) und zwar gerade am stärksten Punkt der französischen Front: Verdun, das hätte niemand geahnt, das ist das Unglaubliche." [1] Als Franz Marc dies am 27. Februar 1916 schrieb, war die Schlacht um Verdun erst wenige Tage alt. Der Brief ist durchaus typisch für die anfänglichen deutschen Hoffnungen. Bestärkt hatte sie die überraschende Nachricht, dass das vermeintliche Herzstück des französischen Verteidigungswerks, das Fort Douaumont, schnell an die Deutschen gefallen war, nachdem massives Artilleriefeuer den Angriff am 21. Februar eröffnet hatte. Nur wenig später war der Maler Franz Marc tot - gefallen in der Schlacht um Verdun. Unzählige weitere sollten ihm folgen. Wie viele Menschen an der Maas starben, verwundet oder gefangen genommen wurden, lässt sich nicht mehr exakt ermitteln, seriöse Schätzungen gehen von über einer halben Million Soldaten aus. [2] Noch heute finden sich auf dem Gelände immer wieder menschliche Überreste.

300 lange Tage und ebenso lange Nächte, bis kurz vor Weihnachten 1916, wogte das schreckliche Ringen um wenige Quadratkilometer französischen Bodens hin und her, das Olaf Jessen mit seinem Buch in den Blick nimmt. Schon teilnehmende Zeitgenossen wie der Kommandierende General des X. Reservekorps, Robert Kosch, sahen in ihr die "gewaltigste [...] Schlacht [...], die die Weltgeschichte kennt", wie er seiner Frau schrieb (216). Verdun steht nicht nur für den schrecklichen Verlauf des Jahres 1916, sondern war in vielerlei Hinsicht auch ein Wendepunkt, eine Binnenzäsur des Ersten Weltkriegs. Denn danach war offensichtlich: Frontdurchbrüche und Entscheidungsschlachten waren im Westen, selbst unter Aufbietung aller militärischen Mittel, nicht mehr zu erwarten. In Frankreich geriet die Schlacht zur Bewährung für das politische System und zum Symbol des nationalen Durchhaltewillens. General Philippe Pétains späterer Aufstieg ist ohne seine defensive Taktik und das neu eingeführte Rotationssystem (die berühmte "noria"), das nahezu alle französischen Männer zu Verdunveteranen machte, undenkbar. Sein Ruf als Retter von Verdun gründet darin. Die Schlacht verschlechterte unter den deutschen Soldaten die Stimmung, und sie hatte weitreichende politische und militärische Konsequenzen. Die zunehmenden Kriegslasten trugen maßgeblich zu den Berliner Protesten am 1. Mai 1916 bei. Die Schlacht beschädigte zudem den Generalstabschef der Zweiten OHL, Erich von Falkenhayn, irreversibel und forcierte den Aufstieg Paul von Hindenburgs und Erich Ludendorffs zur Dritten OHL.

Die zehn chronologisch angeordneten Kapitel der Studie sind tagebuchartig, manche Passagen beschreiben das fürchterliche Dahinschlachten sehr dicht, fast schon im Stakkato, Stunde um Stunde, Tag um Tag. Der Fall des Douaumont am 25. Februar ist dafür ein Beispiel, ein ganzes Kapitel mit fast 30 Seiten ist einem einzigen Tag gewidmet. Manche Abschnitte dagegen wiederum sind weiter gehalten. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie quellennah verfasst sind. Das Adjektiv "quellennah" ist oft auf Bücher gemünzt, die Zitat an Zitat reihend, detailllastig und wenig analytisch geschrieben sind und zugleich das große Ganze aus dem Auge verlieren. Es liegt daher nahe, an eine weitere Schlachtengeschichte alten militärgeschichtlichen Zuschnitts zu denken. Das ist hier nicht gemeint, vielmehr wird durchgängig im Präsens erzählt, die vielen Quellenzitate dramatisieren die Vorgänge, ziehen den Leser in das Geschehen hinein. Hin und wieder ordnet Jessen das Gesagte in größere Zusammenhänge ein, erklärt eher beiläufig grundsätzliche Entwicklungen und Sachverhalte. Die absichtsvolle Quellennähe dieses Buches ist quälend und zugleich ein Gewinn, denn mit ihr veranschaulicht Jessen das massenhafte Leid und Sterben in der "Menschenmühle Verdun", die Ängste von Beteiligten und auch ihre Brutalisierung. Freilich geschieht dies kaum einmal aus den Perspektiven der einfachen Soldaten in den Gräben oder der Etappe, nahezu ausschließlich handelt es sich um Sichtweisen adeliger Offiziere, aus deren Erinnerungsliteratur der Verfasser reichlich schöpft; der in der jüngeren Militärgeschichte längst etablierte Blick auf den "kleinen Mann" fehlt so leider.

Eine Stärke des reich bebilderten Buches dagegen liegt in der detaillierten Beschreibung der deutschen und französischen Generalstabsplanungen sowie in der intensiven Auseinandersetzung mit der sogenannten "Weihnachtsdenkschrift" Falkenhayns, die dieser dem Kaiser um Weihnachten 1915 vorgelegt habe wollte und die er in seinen Memoiren nach dem Krieg veröffentlichte. Ihr widmet Jessen einen rund 50-seitigen Anhang, in dem er den Gang der Forschung und wichtige Quellen wiedergibt. Der Denkschrift zufolge wollte der bereits 1922 verstorbene Falkenhayn in Verdun keinen Durchbruch an der Westfront oder gar einen schnellen Sieg erzwingen. Vielmehr sollten die Franzosen in der Schlacht um die strategisch wichtige und symbolische Festung Verdun hohe Verluste erleiden, "ausbluten" und "weißbluten" sind die gängigen zeitgenössischen Begriffe dafür. Noch in Nachhinein gab Falkenhayn sich sicher: Da mehr Franzosen als Deutsche fielen, sei die Schlacht der Ausblutungstheorie folgend erfolgreich verlaufen. Historiker haben das Original dieser vielzitierten Denkschrift lange gesucht und bisher nicht gefunden. Was bereits seit Holger Afflerbachs mustergültiger Falkenhayn-Biographie [3] als wahrscheinlich gelten musste, kann nun wohl als Gewissheit verbucht werden. Diese Denkschrift gibt es nicht, sie ist eine Verschleierungstaktik und Rechtfertigungsstrategie Falkenhayns. Nicht nur die deutsche Seite suchte Anfang 1916 das Patt des Stellungskrieges zu überwinden und wieder einen Bewegungskrieg herbeizuführen. Jessen präpariert einleuchtend die Ähnlichkeit des operativen Generalstabsdenkens hüben wie drüben heraus. Das ist kein geringes Verdienst.

Offen bleibt die Bedeutung des Untertitels "Urschlacht des Jahrhunderts". Jessen greift damit jene überstrapazierte Wendung des amerikanischen Diplomaten und Historikers George F. Kennans über den Ersten Weltkrieg als "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" auf. Überlegungen zur "Urschlacht" und zur symbolischen Bedeutung Verduns sucht man abgesehen von wenigen Bemerkungen vergeblich. Auf beiden Seiten wurde Verdun zum Erinnerungsort, Verdunkämpfer wurden idealisiert und noch in den 1920er Jahren etablierte sich ein bis heute anhaltender Schlachtfeldtourismus. [4] Jessen hat ein nachdenklich stimmendes und lesenswertes Buch zu Verdun vorgelegt, dennoch ist das letzte Wort über diese Totalschlacht noch nicht gesprochen.


Anmerkungen:

[1] Franz Marc: Briefe aus dem Felde, München 1966 [zuerst Berlin 1920], 138.

[2] Vgl. etwa Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, 443f. Roger Chickering: Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, München 2002, 86.

[3] Holger Afflerbach: Falkenhayn. Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich, München 1994.

[4] Gerd Krumeich, Verdun, in: Pim de Boer u.a. (Hgg.): Europäische Erinnerungsorte, Bd. 2: Das Haus Europa, München 2012, 437-444.

Rezension über:

Olaf Jessen: Verdun 1916. Urschlacht des Jahrhunderts, München: C.H.Beck 2014, 496 S., 66 Abb., 8 Karten, ISBN 978-3-406-65826-6, EUR 24,95

Rezension von:
Nils Freytag
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Nils Freytag: Rezension von: Olaf Jessen: Verdun 1916. Urschlacht des Jahrhunderts, München: C.H.Beck 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 7/8 [15.07.2014], URL: https://www.sehepunkte.de/2014/07/24637.html


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