"[...] dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, eine Nacht und einen Tag trieb ich auf dem tiefen Meer. Ich war oft auf Reisen, in Gefahren durch Flüsse, [...] in Gefahren auf [dem] Meer". [1]
Obwohl der Apostel Paulus seinerseits nicht die erste literarische Quelle für das Phänomen des Schiffbruchs darstellt, spiegelt die Emphase doch anschaulich den Stellenwert des Scheiterns menschlichen Abenteuers auf See. Von komödiantischer Aufarbeitung [2] bis hin zur morbiden Faszination reicht dabei das Spektrum der Rezeptionsgeschichte, ein breites Publikum scheint bis hin zum belletristischen und cineastischen Genre garantiert; von der Mary Rose über die Vasa und Titanic bis zur jüngsthin verlorenen Costa Concordia sind diese prominenten Opfer des Meeres zu festen Bestandteilen unserer maritimen Vorstellungswelten geworden. [3]
Die wissenschaftliche Aufarbeitung des Gesamtphänomens "Schiffbruch" hingegen scheint nicht auf der Höhe populären Interesses angesiedelt. Von namhaften Einzeluntersuchungen etwa zu den obenstehenden prominenten Wracks einmal abgesehen, hat sich weder die allgemeine noch die fachspezifische Historiografie bislang in besonderer Weise diesem Sujet zugewandt. [4] Dass es sich hierbei um ein echtes Desiderat handelt, dass also Schiffbruch und alles damit Zusammenhängende gerade auch der zeitgenössischen Kulturwissenschaft sehr viel an Material, Einsichten und Erkenntnissen anzubieten hat, belegt aufs Schönste der vorliegende, hier anzuzeigende und von Otto Ulbricht zusammen mit Carl Petersen herausgegebene Band. Anders als bei der Vielzahl aktueller maritimer Publikationen handelt es sich nicht um ein bewusst populärwissenschaftliches Werk. Vielmehr ist das Anliegen der Autoren, anhand von drei literarischen Augenzeugenberichten des 17. und 18. Jahrhunderts das erwähnte Phänomen gattungshistorisch anhand von Selbstzeugnissen in den Griff zu bekommen.
Den Fokus der Betrachtung bildet das schleswigsche, heute norddeutsche, bis 1864 aber dänische Flensburg, bis zum gewaltsamen Anschluss an Preußen die zweitgrößte Hafenstadt der skandinavischen Monarchie. Durch Heringe, Walderivate und Zuckerhandel in der alten Zeit, durch Rumhandel im 18. Jahrhundert wirtschaftlich bedeutend, bietet das Ostseehandelszentrum einen idealen Ansatz zur Erschließung eines maritimen Mikrokosmos.
Der Glücksfall, von zwei auch sozial herausragenden Zeitgenossen, beide reiche Kaufleute, welche schließlich bis zum Flensburger Bürgermeisteramt arrivieren sollten, ausführliche Selbstzeugnisse in Form von Reisetagebüchern beziehungsweise Lebenserinnerungen vorliegen zu haben, ermöglicht die methodisch interessante Auswertung. In der Präsentation von Sujet und Anliegen, Einordnung, und Vorstellung der Akteure, Bewertung und Kommentierung der Quellen sowie in der stringenten Darlegung der Ergebnisse leisten die beiden Bearbeiter des Bandes tatsächlich Gewaltiges. Weit über das an sich schon erhebliche Ergebnis einer qualitätvollen, allen Editionsregeln entsprechenden Erstherausgabe der drei herangezogenen Quellentexte, entsteht so ein lebhaftes, auf keiner Seite langweiliges oder gar ermüdendes Bild einer wenig beachteten maritimen Landschaft und Lebenswelt.
Ebenso weit über den lokalen Bezug, respektive Anknüpfungspunkt hinaus bietet dieses Buch dem Leser somit ausgezeichnete Einblicke in die maritimen Realitäten der Zeit aus erster Hand. Die wissenschaftliche Aufarbeitung und Aufbereitung kann nur als exemplarisch bezeichnet werden; der reiche Anmerkungs- und Dokumentationsapparat, sowie die überaus detaillierte Bibliografie belegen die Seriosität der geleisteten Arbeit ebenso wie sie dem interessierten Betrachter weite und weitere Anregungen und Perspektiven vermitteln. Wenn sich das Werk auch stellenweise ein wenig von dem im Titel werbewirksam aufscheinenden Sujet des Schiffbruchs entfernt, so bleibt dieser doch stets zumal latent im Fokus; inhaltliche Sensationshascherei vermeidet der Text erfreulicherweise durchwegs.
In der Summe kann der vorliegende Band daher nur wärmstens empfohlen werden - dies sowohl für landesgeschichtlich und -kundlich Interessierte ebenso wie für Seefahrts- und Mentalitäts-, für Handels- und Literaturhistoriker. Da er durchwegs gut lesbar gehalten ist, sollte und dürfte er darüber hinaus auch ein breiteres Publikum ansprechen und erreichen.
Anmerkungen:
[1] 2 Cor 11,25.26.
[2] So etwa schon in der antiken Komödie des T. Maccius Plautus (c. 254-184 v.Chr.) Rudens (c. 211 v.Chr.), in welcher ein Seesturm mit fatalen Folgen im Mittelpunkt steht (Ed. Plautus - Komödien. Lateinisch und deutsch, hrsg., übersetzt und kommentiert von Peter Rau, Bd. 5, Darmstadt 2008, 239-360); vgl. Johannes Kahlmeyer: Seesturm und Schiffbruch als Bild im antiken Schrifttum, Hildesheim 1934.
[3] Vgl. Sabine Mertens: Seesturm und Schiffbruch. Eine motivgeschichtliche Studie (= Schriften des Deutschen Schifffahrtsmuseums; Bd. 16), Hamburg 1987.
[4] Erwähnenswerte Ausnahmen bilden: Helmer Zühlke (u.a.): Untergang vor Borkum. Die Geschichte des Rettungswesens im deutsch-niederländischen Seegebiet, 2 Bde., I: 1830-1924, II: 1924-1945, Wiefelstede 2011/2012; Johannes Lachs / Theodor Zollmann: Seenotrettung an Nord- und Ostsee, Hamburg 1998.
Otto Ulbricht (Hg.): Schiffbruch! Drei Selbstzeugnisse von Kaufleuten des 17./18. Jahrhunderts. Edition und Interpretation (= Selbstzeugnisse der Neuzeit; Bd. 21), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, 220 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-20965-0, EUR 34,90
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