Dieser Band des Jahrbuchs Polin ist der Geschichte und Kultur der litauischen Judenheit von 1772 bis zur Gegenwart gewidmet. Als litauische Juden, die sogenannten "Litwaken", bezeichnet man traditionell die Juden, die aus den Gebieten des ehemaligen Großfürstentums Litauen, ungefähr in den Grenzen nach der Lubliner Union, stammen. Es entspricht in etwa dem Territorium des heutigen Litauens, Weißrusslands, südlichen Lettlands, nordöstlichen Polens und der nördlichen Ukraine.[1] Auf diesem Gebiet hat sich im Laufe der Jahrhunderte eine spezifische jüdische Kultur entwickelt, die sich von den jüdischen Kulturen in den benachbarten Gebieten unterschied. Als typische Merkmale der litauisch-jüdischen Kultur werden oft der nordjiddische Dialekt, bestimmte religiöse Traditionen und die gemäßigte Ausrichtung der jüdischen Aufklärung genannt.
Die Herausgeber setzen sich zum Ziel, aktuelle Forschungsergebnisse aus dem Bereich der jüdischen (Kultur-)Geschichte Litauens vorzustellen und so konstruktive Diskussionen zwischen litauischen und nicht-litauischen Wissenschaftlern zu fördern. Beinahe die Hälfte der Aufsätze stammt von litauischen Gelehrten, und man spürt die Intention der Herausgeber, die in Litauen geleistete Forschung in den Fokus zu rücken. Jüdische Studien sind in Litauen eine relativ junge Disziplin. Unter sowjetischer Herrschaft waren Untersuchungen in diesem Bereich sowohl wegen der Zensur als auch wegen des beschränkten Zugangs zu den Archivmaterialien unmöglich. Auf dieses Forschungsfeld, das unter anderem auch so schmerzhafte und kontroverse Themen wie die lokale Kollaboration im Holocaust beinhaltet, wurden die litauischen Wissenschaftler erst nach der Wende aufmerksam. Seitdem, so die Herausgeber, seien in Litauen viele wertvolle Studien entstanden, die nicht zuletzt durch die Einbeziehung kritischer Ansätze und litauischsprachiger Quellen ein neues Licht auf eine Reihe von Fragestellungen werfen würden. Viele dieser Arbeiten seien jedoch aus sprachlichen und manchmal auch aus ideologischen Gründen international bislang kaum rezipiert worden.
Die Beiträge betreffen Themenkomplexe wie etwa den spezifischen Charakter der litauischen Judenheit, die litauisch-jüdischen Beziehungen, diverse Phänomene der litauisch-jüdischen Kultur, Gedächtnis und Erinnerung. Eröffnet wird das Sammelwerk mit einem Artikel des israelischen Historikers Mordechai Zalkin zur regionalen Identität der litauischen Juden. Er hinterfragt das weit verbreitete Konzept der "osteuropäischen Judenheit" und versucht am Beispiel der "Litwaken" zu zeigen, dass östlich der Oder wohnende Juden in kultureller Hinsicht keinesfalls eine homogene Gruppe bildeten, wie dieser populäre Begriff impliziere. Anhand der Analyse der zeitgenössischen jüdischen Presse und Literatur zeigt der Verfasser, dass die "Litwaken" sich selbst nicht als einen Teil der "osteuropäischen Judenheit", sondern als eine distinkte kulturell-religiöse Gemeinschaft verstanden. Vytautas Toleikis, ein prominenter litauischer Pädagoge und Essayist, bietet in seinem "personal testament" (403) einen Einblick in den komplizierten Weg, den die heutige Jüdische Gemeinde Litauens auf der Suche nach einer neuen kollektiven Identität zurücklegen musste.
Besonders viel Aufmerksamkeit wird den litauisch-jüdischen Beziehungen und dem Antisemitismus gewidmet - dem wohl am besten erforschten Gegenstand innerhalb der Jüdischen Studien in Litauen. Aelita Ambrulevičiūtė analysiert in ihrem Beitrag die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen jüdischen Händlern und christlichen Bauern im 19. Jahrhundert und verfolgt den allmählichen Wandel auf dem ethnisch strukturierten Arbeitsmarkt sowie die antisemitischen Stimmungen, die diese Veränderungen begleiteten. Dieses Thema greift auch Darius Staliūnas auf, der sich mit dem Antisemitismus im Verhältnis zum Aufkommen des modernen litauischen Nationalismus um 1900 auseinandersetzt. Vladas Sirutavičius behandelt antisemitische Entwicklungen und deren Ursachen in der ersten Litauischen Republik und unterscheidet für diesen Zeitraum zwei Wellen von Judenfeindlichkeit. Einige Beiträge liefern einen Einblick in die höchst komplexe Geschichte der litauisch-jüdischen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs. Hier ist der Artikel von Saulius Sužiedėlis hervorzuheben, in dem die erste sowjetische Okkupation 1940/41 als ein Jahr des ethnischen Konflikts untersucht wird, der die Gesellschaft in zwei Lager gespalten habe. Anhand von Archivmaterialien widerlegt der Verfasser mehrere populäre Stereotype über die Rolle der Juden im Sowjetisierungsprozess Litauens und warnt davor, "die Geschichte rückwärts zu lesen" (330) und die litauische Kollaboration im Holocaust ausschließlich als Rache litauischer Helfershelfer an prosowjetisch gesinnten Juden zu interpretieren.
Erwähnenswert sind die Untersuchungen zu den Wechselwirkungen zwischen jüdischen und lokalen Kulturen. Solche Studien ließen lange auf sich warten, hatte man doch in der Historiografie überwiegend angenommen, dass die litauische Judenheit eine nach außen hin relativ abgeschlossene Gemeinschaft gebildet habe. Die Beiträge von Larisa Lempertienė, Anna Verschik und Andrey Krotau widerlegen diese These und veranschaulichen, dass spätestens seit der Zwischenkriegszeit das Interesse der jüdischen Intellektuellen an der litauischen beziehungsweise weißrussischen Kultur gewachsen ist. Wie sich diese Tendenz hätte weiterentwickeln können, lässt sich allerdings unmöglich sagen.
Einen weiteren Themenbereich bilden Gedächtnis und Erinnerung. Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass sich die Herausgeber nicht nur auf Beiträge beschränkt haben, die streng wissenschaftlichen Kriterien genügen. Der Text von Ellen Cassedy erinnert beispielsweise eher an ein Essay und beschäftigt sich mit der Frage, wie man im heutigen Litauen mit dem Holocaust umgeht. David E. Fishman widmet sich dem bislang wenig behandelten Problem der Memorialisierung der Orte in Vilnius, die in der Zwischenkriegszeit als jüdische Nationalsymbole galten. Anna P. Ronell setzt sich mit der literarischen Erinnerung im Werk von Grigory Kanovich auseinander, einem der bekanntesten zeitgenössischen Schriftsteller mit litauisch-jüdischem Hintergrund. Der zweite, deutlich kleinere Teil der Publikation enthält vier Aufsätze über die Juden in der polnischen Medizin. Besonders interessant ist der Artikel von Miriam Offer über die ethischen Dilemmas, mit denen die jüdischen Ärzte und Krankenschwestern im Warschauer Ghetto konfrontiert waren.
Die vorliegende Aufsatzsammlung präsentiert dem englischlesenden Publikum vor allem Themen aus einem heterogenen, in den letzten Jahren besonders lebendigen und aktuellen Forschungsfeld der litauisch-jüdischen Studien. Die Mehrheit der Beiträge beruht auf eingehender Archivarbeit sowie kritischer Presseanalyse und bietet wichtige neue Erkenntnisse in Bezug auf die Diskussionen über die litauisch-jüdischen Beziehungen wie auch auf andere Aspekte des jüdischen Lebens auf dem ehemaligen Territorium des sogenannten "Lite". Eine besondere Leistung ist die Verknüpfung der litauischen mit der israelischen und westlichen Forschung. Allerdings ist es zu bedauern, dass mehrere in den letzten Jahren in Litauen entstandene Forschungsbereiche zur litauischen Judenheit keinen Ein¬gang gefunden haben. Besonders zu erwähnen wären die Erinnerungskultur zum Holocaust, Synagogenarchitektur sowie jüdische Kunst und Literatur der Moderne. Insgesamt ist das Werk zweifellos ein bedeutender Beitrag zu den litauisch-jüdischen Studien und ein wichtiger Schritt hin zu einer integrierten Geschichtsauffassung.
Anmerkung:
[1] Vgl. die Karte von Dovid Katz: The Cultural Territory of Classic Jewish Lithuania (Lite), URL: (15.09.2013). http://www.dovidkatz.net/WebAtlas/0_TerritoryLitvish_Cult.htm
Šarūnas Liekis / Antony Polonsky / Chaeran Freeze (eds.): Jews in the Former Grand Duchy of Lithuania since 1772 (= Polin. Studies in Polish Jewry; Vol. 25), Oxford: Littman Library of Jewish Civilization 2013, XIII + 509 S., ISBN 978-1-904113-93-5, GBP 45,00
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