Die Edition der DDS ist mit dem 25. Band in die Jahre 1970-1972 vorgestoßen. Bilden diese Jahre eine besondere Zeit? Abgesehen davon, dass nach dem klassischen historischen Verständnis jede Zeit mit ihren Eigenheiten eine besondere Zeit ist, lassen sich in diesem Zeitabschnitt, ohne dass er deswegen gleich zu einer Epoche gemacht werden muss, besonders wichtige Vorgänge ausmachen: das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und den Europäischen Gemeinschaften von 1972, von dem ein Spitzenbeamter sagte, dass es "irreversiblen" Charakter habe (Dok. 160); die Vorarbeiten für das KSZE-Treffen von Helsinki 1973; die PLO-Attentate von 1969/70. Als die Palästinensische Befreiungsfront eine "Swissair"-Maschine zusammen mit zwei anderen Maschinen in die jordanische Wüste entführte, war die schweizerische Regierung bereit, auf das gestellte Ultimatum einzugehen und die drei zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilten Attentäter freizulassen, die im Jahr zuvor auf dem Flughafen Zürich-Kloten einen Anschlag auf eine Maschine der israelischen Fluggesellschaft "El Al" verübt hatten. Die Regierung erklärte, dass ein solches Vorgehen allen Prinzipien der geltenden Rechtsordnung widerspreche und dass man sich nur unter Protest dem brutalen Zwang füge (Dok. 37). Für die Freilassung war indessen nicht der Bund, sondern der Kanton Zürich zuständig, doch dieser folgte den Erwartungen der Bundesregierung.
Vieles war weniger außerordentlich und bloß Fortschreibung des courant normal, deshalb aber nicht unwichtig: Reaktionen auf Währungsherausforderungen, Verteidigung der Uhrenindustrie, Regelung des Kriegsmaterialexports, Steuerung der Arbeitseinwanderung, Mitarbeit in den technischen UN-Organisationen (noch nicht in den politischen), Ausbau der Beziehungen zu den um 1960 selbständig gewordenen afrikanischen Staaten, Entwicklungshilfe, IKRK (Internationales Komitee vom Roten Kreuz), Gute Dienste, etwas Partizipation an der Weltraumforschung u.a.m. Wiederkehrend waren in jener Zeit auch die Probleme, die sich aus Nationalisierung von Privateigentum ergaben; 1972 kam diese Frage in Allendes Chile auf.
Die Besonderheit dieser Jahre kann auch jenseits besonderer Einzelvorkommnisse gesehen werden in der verstärkten Verflechtung mit der internationalen Welt sowie der verstärkten Interdependenz zwischen Außen- und Innenpolitik. Die Schaffung des Katastrophenhilfskorps (Dok. 79) mag ein Zeichen dafür sein. Intensivierung und Beschleunigung der Interaktionen: Das war und ist eine andauernde und wachsende Besonderheit. Eine weitere in der Einleitung ebenfalls unterstrichene Folge: Die innenpolitische und transnationale Verflochtenheit führte dazu, dass mehr denn je praktisch alle Departemente (Ministerien) und Amtsstellen direkt oder indirekt von außenpolitischen Fragestellungen betroffen waren.
Welchen Nutzen kann man von diesem Band haben, der 185 Dokumente aus ca. 4000 Archivbänden auf über 500 Seiten sorgfältig annotiert vorstellt? Sacha Zala, Direktor der DDS, bezeichnet den Band in der dreisprachig (aber nicht englisch) präsentierten Einleitung als "unerlässlichen Kompass" zur Orientierung in der zunehmenden Fülle von theoretisch zugänglichem Aktenmaterial. Bevor wir mit dem speziellen Suchen anfangen können, muss uns ein Überblick zur Verfügung gestellt werden, damit wir wissen, wonach überhaupt Ausschau gehalten werden kann. Diesen Überblick erhalten wir in doppelter Weise: zum einen mit einer substantiellen Einleitung und zum andern mit den aufgelisteten Kurzangaben (Regesten) zu allen Dokumenten. Die Print-Selektion bildet aber nur die Spitze eines Eisbergs und macht darauf aufmerksam, was gewissermaßen "unter Wasser" auch noch vorhanden ist. Dieser immense Rest ist oder wäre im Lesesaal des Bundesarchivs einsehbar; er ist aber - wenigstens teilweise - auch elektronisch in der Datenbank Dodis konsultierbar, denn da warten auf uns immerhin ca. 1900 zusätzliche Dokumente.
Zala leistet mit seiner Equipe Pionierarbeit in der elektronischen Aufarbeitung von Archivgut. Im wissenschaftlichen Apparat werden Permalinks (Uniform Resource Identifier) angegeben, welche über das Internet direkte Verweise auf weitere in Dodis gespeicherte Dokumente und Eigennamen ermöglichen. In die gleiche Richtung geht das Projekt Metagrid, das die Vernetzung historischer Daten mit dem immensen Korpus des Historischen Lexikons der Schweiz (HLS) anstrebt. Ein Teil der elektronischen Dokumentation kann in die Welt des Prints gleichsam zurückgeholt werden: Seit 2012 werden Quaderni di Dodis angeboten, E-Books, die dem Open-Access-Prinzip verpflichtet sind und frei heruntergeladen werden können. Hinzu kommen die Internet-Angebote zu Tagesaktualitäten, die von den Medien stark beachtet werden; im Juli 2015, als die USA und Kuba ihre diplomatischen Beziehungen normalisierten, beispielsweise ein E-Dossier zur Wahrung der amerikanischen Interessen, welche die Schweiz 1961 übernommen hatte. [1] Die DDS-Arbeit wird nicht nur im stillen Kämmerlein geleistet, die schweizerischen Editoren suchen auch den internationalen Austausch mit Kollegen aus aller Welt. In diesem Sinne kam es im Herbst 2013 im Genfer Palais des Nations zu einer Editorenkonferenz und zur Bildung einer Struktur, die vertiefte Kooperation ermöglichen soll.
Trotz allem ist es nicht einfach nur patriotische Selbstbespiegelung, wenn in der editorischen Notiz zum 25. Band gesagt wird, dass die Dokumente die Grundzüge und Leitlinien der internationalen Beziehungen der Schweiz und den "schweizerischen Blickwinkel" zeigen sollen. Dazu findet sich beispielsweise eine Aussprache vom März 1971, ob nach der lange erwarteten Einführung des Frauenstimmrechts der Weg nun endlich frei sei für die Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Von einem katholischen Regierungsmitglied wurde darauf hingewiesen, dass dies wohl kaum möglich sei, weil zuerst die aus dem 19. Jahrhundert stammenden und gegen die Jesuiten gerichteten Ausnahmeartikel beseitigt werden müssten (Dok. 62).
Die Edition leistet wissenschaftliche Grundlagenarbeit und ist ein Projekt der freien Forschung. In der Auswahl der Dokumente lässt sie sich nicht von politischen Nebenüberlegungen leiten. Doch sie kann nicht völlig uneingeschränkt über die Dokumente der jeweils bearbeiteten Zeit verfügen. Einzelne Aktenstücke aus den Beziehungen zum Apartheid-Regime in Südafrika wurden nicht freigegeben, obwohl sie außerhalb der üblichen Sperrfrist von 30 Jahren liegen. Die Editoren legen jedoch Wert darauf, dass diese Lücke deklariert wird; im Anhang werden die nicht freigegebenen Dokumente einzeln aufgelistet (526-532).
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die DDS mit diesem Band sozusagen sich selbst eingeholt haben, das heißt auf ihre eigenen Anfänge gestoßen sind und dazu ebenfalls ein Dokument publiziert wird: ein von jüngeren Historikern angeregtes Rundscheiben vom September 1972, mit dem alle schweizerischen Universitäten eingeladen werden, sich an einer umfassenden Quellenedition zur schweizerischen Außenpolitik seit 1848 zu beteiligen (Dok. 163).
Anmerkung:
[1] http://www.dodis.ch/de/themendossiers/e-dossier-die-schweiz-als-vertreterin-von-us-interessen-kuba
Sacha Zala (Hg.): Diplomatische Dokumente der Schweiz - Documents Diplomatiques Suisses - Documenti Diplomatici Svizzeri. Band 25: 1.1.1970 - 31.12.1972 (= Kommission für die Veröffentlichung diplomatischer Dokumente der Schweiz; Bd. 25), Zürich: Chronos Verlag 2014, LXVIII + 532 S., ISBN 978-3-0340-1191-4, EUR 64,00
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