Erzbischof Wulfstan von York ist vor allem für seinen "Sermo Lupi ad Anglos" bekannt, eine eindringliche Predigt im Angesicht der Wikingereinfälle, für die er die Sünden des englischen Volkes verantwortlich macht und in der er die Engländer zur Umkehr aufruft. Diese Predigt gehört zu den Standardtexten in Sprachkursen für Altenglisch und ist dementsprechend in vielen Lehrbüchern enthalten. Andere Texte Wulfstans, der zunächst Bischof von London (996-1002) und anschließend Erzbischof von York (1002-1023) sowie Bischof von Worcester (1002-1016) war, sind dagegen wesentlich weniger bekannt. Diesen Umstand will Andrew Rabin mit englischen Übersetzungen ausgewählter Texte ändern.
In der Einleitung (1-51) präsentiert Rabin den aktuellen Forschungsstand zu Wulfstan. Er bietet zunächst einen kurzen Überblick über den historischen Hintergrund in England, wobei die monastischen Reformen im 10. Jahrhundert sowie die unter König Æthelred (978-1016) erneut einsetzenden Wikingereinfälle besonders wichtig sind. Anschließend werden Leben und Wirken des Erzbischofs präsentiert und der spezielle Stil des Altenglischen, den Wulfstan benutzte und durch den viele Schriften ihm überhaupt erst zugeordnet werden konnten, kurz vorgestellt. Neben dem Stil ist bei Wulfstan auch bemerkenswert, dass er seine Texte immer wieder verändert und wiederverwendet, was sich auch in der handschriftlichen Überlieferung niederschlägt. Die Handschriften, die die von Rabin übersetzten Texte enthalten, werden ebenfalls kurz beschrieben. Im Anhang findet sich außerdem noch zu jeder Handschrift eine komplette Inhaltsangabe, so dass der Überlieferungskontext der einzelnen Texte ersichtlich wird. Nach den Handschriften stellt Rabin die von Wulfstan benutzten Quellen vor. Neben wichtigen Texten der monastischen Reformbewegung sind hier vor allem Wulfstans Zeitgenosse Ælfric von Eynsham, mit dem er in persönlichem Kontakt stand, sowie karolingische Texte vor allem des 9. Jahrhunderts zu nennen.
Im Abschnitt "Homilist and Statesman" greift Rabin die vielzitierte Formulierung von Dorothy Whitelock auf [1] und beschreibt, dass Wulfstans Rollen als Prediger und Politiker (oder Verfasser von Rechtstexten) untrennbar miteinander verbunden sind: "For Wulfstan, the political act of law-making could not be distinguished from his larger religious project, the moral regeneration of the kingdom" (33). Diese moralische Erneuerung ist auch eines der Hauptthemen in Wulfstans Werk, zu denen daneben der Entwurf einer Gesellschaftsordnung, der Dienst an Gott, die kirchlichen Rechte und Privilegien, die Pflichten und Aufgaben von Bischöfen, das bevorstehende Ende der Welt sowie die damit zusammenhängende Buße und Umkehr gehören. Als weiteres Thema macht Rabin die Rechtsgeschichte aus: Anders als Dorothy Bethurum und Patrick Wormald, die Wulfstans häufige Rückschau auf die Zeit (und Gesetzgebung) König Edgars (959-975) als Nostalgie interpretierten, sieht Rabin die Rechtstexte der früheren Zeit, die Wulfstan benutzte, oft auch romantisierte und zum Teil selbst erfand [2], als moralische und juristische Richtschnur für seine eigene Zeit. Den Abschluss der Einleitung bildet ein Abschnitt zur mittelalterlichen Wirkungsgeschichte von Wulfstans Texten sowie zur neuzeitlichen Forschungsgeschichte. Die Schriften des Erzbischofs wurden gerade nach 1066 wichtig, weil sich Wulfstans Betonung einer starken, zentralistischen Regierung und seine hierarchische Gesellschaftsordnung mit Gott an der Spitze sehr gut mit den Vorstellungen der anglo-normannischen Herrscher verbinden ließen.
Der zweite Teil des Buches bietet eine Auswahl von Wulfstans Schriften, die Rabin in drei Kategorien untergliedert: Politische Traktate (sieben Texte, 55-124), Predigten und homiletische Traktate (elf Texte, 127-170) sowie Quellen und Entsprechungen (sechs Texte, 173-206). Eine Begründung für diese Einteilung fehlt, obwohl sie eine Unterscheidung in Predigten und Rechtstexte befördert, die sich in Wulfstans Werk nicht finden lässt, wie Rabin selbst feststellt. Jedem Text ist eine prägnante Einleitung mitgegeben, die auf vorliegende Editionen und die wichtigste Forschung verweist und die einzelnen Texte in das Gesamtwerk Wulfstans einordnet. Die Übersetzungen sind flüssig zu lesen und bleiben dennoch nah am Original, wobei Rabin für dieselben altenglischen Worte teils unterschiedliche Übersetzungen gewählt hat, damit die Texte nicht zu repetitiv werden. Die eingestreuten lateinischen Ausdrücke wurden ebenfalls ins Englische übertragen, aber gleichzeitig kursiv gesetzt, so dass schnell auszumachen ist, wenn Wulfstan lateinische Ausdrücke benutzte. Sofern die zugrundeliegenden Editionen eine Einteilung in nummerierte Abschnitte und Sätze vorgenommen haben, wie es bei den Rechtstexten üblich ist, wurde diese in der Übersetzung beibehalten. Zahlreiche Anmerkungen geben weiterführende Hinweise auf die Forschung sowie auf Parallelstellen bei Wulfstan selbst und in anderen Texten.
Die Auswahl der Texte wird leider nicht erläutert. Ein im Vorwort genanntes Kriterium ist, dass viele Texte zum ersten Mal in Übersetzung vorgelegt werden, wobei dies aber auf acht der 24 Texte nicht zutrifft. [3] Insgesamt bleibt auch unklar, was "politische Schriften" sind oder ob Wulfstan überhaupt "unpolitische Schriften" verfasst hat. In diesem Zusammenhang wäre es wichtig gewesen, den Terminus "political writings/tracts" zu erläutern und die Kriterien für die Auswahl der Texte zu präsentieren. Wer sich noch nicht mit Wulfstan beschäftigt hat, wird sich möglicherweise fragen, welchen Platz die hier präsentierten Texte im gesamten Œuvre des Erzbischofs einnehmen und welchen Umfang sie ausmachen. Diese Kritik soll die Bedeutung des Bandes aber nicht schmälern: Mit den Übersetzungen aus dem Altenglischen stehen Wulfstans Ideen und Vorstellungen einer breiteren Leserschaft zur Verfügung. Rabin legt insgesamt eine profunde, aktuelle und differenzierte Einführung in das Werk eines der vielleicht bedeutendsten Gesellschaftstheoretikers der ersten Jahrtausendwende vor.
Anmerkungen:
[1] Dorothy Whitelock: Archbishop Wulfstan, Homilist and Statesman, in: Transactions of the Royal Historical Society 24 (1942) 25-45, wieder abgedruckt in: Essays in medieval history selected from the Transactions of the Royal Historical Society on the occasion of its centenary, ed. by R. W. Southern, London 1968, 42-60, und in: Dorothy Whitelock: History, Law and Literature in 10th-11th Century England, London 1981.
[2] Beispielsweise stammen die "Gesetze von Eduard und Guthrum" (Text I.1) und die "Kanones von Edgar" (Text I.6) nicht aus dem 10. Jahrhundert, wie die Texte selbst vorgeben, sondern aus der Feder Wulfstans.
[3] Die Texte I.1, I.2, I.6 und III.3-6 sind alle in englischer Übersetzung zu finden in Councils and synods with other documents relating to the English church, Band 1: A.D. 871-1204, Teil 1: 871-1066, ed. by Dorothy Whitelock u.a., Oxford 1981. Die "Institutes of Polity" (Text I.7) wurden von Michael Swanton in der von ihm herausgegebenen Anthologie Anglo-Saxon Prose, London 1993, 187-201, übersetzt. Elf der 24 Texte liegen außerdem in deutscher Übersetzung vor, entweder in: Die Gesetze der Angelsachsen, Band 1: Text und Übersetzung, hg. von Felix Liebermann, Halle (Saale) 1903 (I.1-5, III.4-6) oder in: Die "Institutes of polity, civil and ecclesiastical". Ein Werk Erzbischof Wulfstans von York, hg. von Karl Jost, Bern 1959 (I.6-7, III.3).
Andrew Rabin (ed.): The Political Writings of Archbishop Wulfstan of York (= Manchester Medieval Sources Series), Manchester: Manchester University Press 2015, X + 254 S., ISBN 978-0-7190-8975-6, GBP 19,99
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