Mit der Operation Barbarossa schwappte im Sommer 1941 auch eine Gewaltwelle gegen die jüdische Bevölkerung über das östliche Europa. John-Paul Himka, Wendy Lower, Sara Bender und andere haben in den letzten Jahren die Verstrickung von Teilen der lokalen Bevölkerung in Massaker an ihren jüdischen Nachbarn während des Einmarschs der Wehrmacht und der nachfolgenden SS- und Polizeiformationen untersucht. [1] Oft war das umstrittene Jedwabne-Buch von Jan Tomasz Gross Anknüpfungspunkt, um die Dynamik der lokalen Gewalt im Sommer 1941 genauer zu durchleuchten. [2]
Mit der Publikation seiner überarbeiteten Habilitationsschrift hebt Kai Struve von der Martin-Luther-Universität in Halle den Forschungsstand auf eine neue Ebene. Auf mehr als 700 Seiten breitet Struve seine Forschungsergebnisse aus. Er hat Quellen und Literatur in einer beeindruckenden Breite verarbeitet, wobei er Berichte von Überlebenden und Erinnerungsbücher jüdischer Gemeinden ebenso berücksichtigt hat wie zum Beispiel deutsche und sowjetische Ermittlungsakten und ukrainische Dokumente. Während Lemberg in der Untersuchung zwar klar im Mittelpunkt steht, hat Struve insgesamt die Vorgänge und die komplexe Gemengelage von Tätergruppen, lokalen Kontexten, Dynamiken und Motiven in mehr als 60 anderen Städten und kleineren Ortschaften in der Westukraine im Sommer 1941 untersucht.
Einleitend geht er auf die ukrainische Nationalbewegung ein, insbesondere die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), deren Beziehungen zu den Juden er als ambivalent bezeichnet. Die Juden seien ursprünglich "nicht die wichtigste Feindgruppe" der OUN gewesen (88). Während der 21 Monate der sowjetischen Besatzung Ostpolens indes nahm die Judenfeindschaft der ukrainischen Bevölkerung "beträchtlich" zu (145). Die Juden wurden als "Träger, Unterstützer und Nutznießer der sowjetischen Herrschaft" wahrgenommen (145), obwohl sie zum Beispiel stärker von Deportationen betroffen gewesen sein dürften als die ukrainische Bevölkerung und 1940 nur noch marginal in Leitungsfunktionen des NKVD vertreten waren (147). Die Ankunft der Roten Armee hatten tatsächlich viele Juden begrüßt, was nichts als logisch war, weil sie diese zu Recht als "Rettung vor den Deutschen" (147) sahen.
Eine zentrale Bedeutung für die antijüdische Gewalt im Sommer 1941 misst Struve dem "sowjetischen Massenmord" an über 20.000 Häftlingen in Ostpolen durch den NKVD zu. Dies sei "ein enormes, grausames Verbrechen" gewesen (218), das instrumentalisiert worden sei, um den Massenmord an den Juden im Kontext des Beginns der Operation Barbarossa zu initiieren und umzusetzen. Die Deutschen hätten sofort den propagandistischen Wert der Leichenfunde erkannt (392).
Die Massaker in Lemberg, die Struve sehr detailliert analysiert (247-432), wurden indirekt von der Wehrmacht initiiert, die der ukrainischen Miliz, die wesentlich von der OUN-B kontrolliert wurde, den Auftrag erteilte, dafür zu sorgen, dass Juden die Toten in den NKVD-Gefängnissen bergen würden. In diesem Kontext kam es zu massiven Ausschreitungen auch der Bevölkerung gegen Juden. Bei den Massenerschießungen spielte neben der deutschen Sicherheitspolizei die ukrainische Miliz eine entscheidende Rolle.
Die Pogrome in anderen Städten und Dörfern der Westukraine folgten ähnlichen Mustern, wobei es "kein einheitliches Pogromszenario" gab (557). Oft war die Entdeckung von Leichen in sowjetischen Gefängnissen der Katalysator für Gewalt. In einigen Orten hatten die Pogrome eher einen lokalen Charakter, wobei sie oft von der ukrainischen Miliz ausgingen, in anderen Ortschaften waren es die Deutschen, die Pogrome initiierten und steuerten. Struve weist nach, dass die Waffen-SS-Division "Wiking" für die blutigsten Gewaltexzesse in der Westukraine Anfang Juli 1941 verantwortlich war, die mehreren tausend Juden das Leben kosteten (561ff.).
In den von ungarischen Truppen besetzten Gebieten war die Ausgangslage etwas anders. Während viele Ukrainer die deutsche Invasion begrüßten, bestand zwischen Ukrainern und Ungarn Misstrauen. Die Ungarn unterbanden Gewalttaten gegen Juden weitgehend, und so kam es im ungarischen Besatzungsgebiet im Juli 1941 in den größeren Städten denn auch nicht zu Morden an Juden. In einzelnen Dörfern gab es aber auch hier Pogrome mit Todesopfern.
Im Schlusskapitel gibt Struve einen Überblick über die Opferzahlen. In den untersuchten Orten in Ostgalizien wurden in den ersten Julitagen zwischen 2065 und 3354 Juden umgebracht. Hinzu kamen 4280 bis 6950 Juden, die von der Waffen-SS-Division "Wiking" ermordet wurden. In ungarisch-kontrollierten Gebieten sowie in im Buch nicht behandelten Ortschaften gab es zusätzlich rund 1000 Opfer.
Struve arbeitet fünf Kontexte für die Gewalteskalation heraus (671-675): Gewalttaten bei der Bergung ermordeter Gefängnisinsassen, Bestrafungen und Exekutionen durch Milizen und Kampfgruppen der OUN-B, "Feiern" des Herrschaftswechsels und des ukrainischen Nationalismus, Erschießungen durch deutsche Polizeikräfte und die Initiierung von Pogromen sowie Gewaltexzesse der Waffen-SS. Innerhalb dieser Kontexte macht Struve drei Motive der Gewalt gegen Juden aus: Die Juden wurden erstens mit den Trägern und Nutznießern des sowjetischen Regimes gleichgesetzt. Zweitens war bei vielen ukrainischen Tätern das nationale Motiv, einen möglichst homogenen ukrainischen Nationalstaat errichten zu wollen, entscheidend. Drittens sind aber auch antijüdische Motive erkennbar, die in dem "in der christlich geprägten Volkskultur überlieferten Bild der Juden" wurzelten (677).
Für Struve ist klar, dass es die Gewalttaten von einheimischer Seite gegen Juden nicht gegeben hätte ohne den Herrschaftswechsel 1939 und ohne "die durch die sowjetische Herrschaft erzeugten gesellschaftlichen Spannungen, vor allem aber ohne die mit dem deutschen Einmarsch verbundene Erwartung, dass Juden von nun an weitgehend recht- und schutzlos sein würden" (678). Struve nimmt also das Argument vorweg, das Timothy Snyder in "Black Earth" stark betont. Gleichzeitig differenziert Struve zu Recht, indem er unterstreicht, es habe eben auch andere Motive für die Gewalt gegen Juden durch die ukrainische Bevölkerung gegeben. Zudem zeichnete für die Mehrheit der jüdischen Opfer ja nicht die ukrainische, sondern die deutsche Seite verantwortlich. Ferner hebt Struve hervor, dass die OUN eine eigenständige Akteurin war, die ihre eigenen politischen Strategien und Handlungsspielräume hatte.
Eine leise Kritik, die den sehr positiven Gesamteindruck indes nicht schmälert, sei in diesem Zusammenhang angebracht: Struve betont mehrfach die (angebliche) Kausalität zwischen sowjetischer Besatzung und sowjetischen Verbrechen einerseits und der antijüdischen Gewalt im Sommer 1941 andererseits. Es ist durchaus richtig, dieses situative Element herauszuarbeiten. Gleichzeitig unterstreichen die Gewaltexzesse gegen Juden an Orten, wo es keine NKVD-Verbrechen gab, dass dieser Zusammenhang vielleicht doch nicht allein entscheidend war. "Brauchten" lokale und noch viel mehr deutsche Täter tatsächlich unbedingt NKVD-Massaker, um im Sommer 1941 Juden zu töten?
Abschließend wagt Struve einen Vergleich zwischen den Vorgängen in der Westukraine im Sommer 1941 und denjenigen in anderen östlichen Regionen (Baltikum, Wolhynien, Bukowina, Bessarabien) (681-691). Die Arbeit von Struve wird unerlässlich sein, um die vergleichende Forschung zum Sommer 1941, die noch in den Kinderschuhen steckt, vorwärts zu treiben.
Die Lektüre von Struves Buch ist beschwerlich und bedrückend. Aber es ist eben auch eine Aufgabe der Geschichtswissenschaft, die Täter und ihre Taten zu benennen. Ort für Ort seziert der Autor akribisch die Chronologie und die Hintergründe der Gewalt gegen Juden. Dies für die Westukraine im Sommer 1941 nahezu lückenlos getan zu haben, ist das große Verdienst Struves. Seine Monografie bringt die Forschung einen wichtigen Schritt vorwärts.
Anmerkungen:
[1] John-Paul Himka: The Lviv Pogrom of 1941: The Germans, Ukrainian Nationalists, and the Carnival Crowd, in: Canadian Slavonic Papers LIII (2011), Nr. 2-4, 209-243; Wendy Lower: Pogroms, Mob Violence and Genocide in Western Ukraine, Summer 1941: Varied Histories, Explanations and Comparisons, in: Journal of Genocide Research 13 (2012), Nr. 3, 217-246; Sara Bender: Not Only in Jedwabne: Accounts of the Annihilation of the Jewish Shtetlach in North-eastern Poland in the Summer of 1941, in: Holocaust Studies 19 (2013), Nr. 1, 1-38.
[2] Jan T. Gross: Neighbors. The Destruction of the Jewish Community in Jedwabne, Poland, New York 2002.
Kai Struve: Deutsche Herrschaft, ukrainischer Nationalismus, antijüdische Gewalt. Der Sommer 1941 in der Westukraine, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, XIV + 739 S., ISBN 978-3-11-035998-5, EUR 69,95
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