Die vatikanischen Bischofssynoden 2014 und 2015 zu Ehe und Familie haben die Pluralität der Lebenssituationen in den Blick genommen, unter denen Menschen ihrer gegenseitigen Liebe Ausdruck geben. Die Wiener Habilitationsschrift von Margareth Lanzinger zeigt auf, dass auch in früheren Jahrhunderten das Zusammenleben von Mann und Frau unter kirchlichen und staatlichen Bedingungen genau geregelt war. Eine Heirat war abhängig davon, ob und wie die Beziehungen zwischen den beiden Partnern mit den Verwandtschaftsbeschränkungen in Einklang zu bringen waren und welche Dispense gegebenenfalls erforderlich waren.
Die seit dem Vierten Laterankonzil 1215 bis zur Einführung des Codex iuris canonici 1917 geltenden Regeln für eine katholische Eheschließung sahen vor, dass Verwandte bis zur vierten Generation rückwärts sowie durch Patenschaft in eine geistliche Verwandtschaft eingetretene Personen nicht miteinander eine Ehe eingehen konnten. Neben Schwierigkeiten mit der Zählweise offenbaren die Quellen, die Lanzinger für vier Diözesen (Brixen, Salzburg, Chur und Trient) untersucht hat, Diskurse über den Gnaden- oder Strafcharakter von Dispensen, zu Liebesbeziehungen und Emotionen, zur Sorge um die materielle Existenz, aber auch um die Moralität der Partner. Erst im 19. Jahrhundert treten medizinische Diskurse hinzu, die sich mit dem Konzept des "gemeinsamen" oder "fremden Blutes" verbinden.
Für Dispense von zu naher Verwandtschaft waren kirchliche Behörden (Bistum und Rom) zuständig, doch standen sie in Konkurrenz zu den staatlichen Behörden, die häufig eine laxere Praxis verfolgten. Wegen der Kleinräumigkeit der Territorien wechselten Heiratswillige deshalb öfter die Grenzen. Dispense waren also Ausdruck konkurrierender Machtkämpfe zwischen Kirche und Staat, vor allem am Ende des 18. Jahrhunderts in der josephinischen Reformperiode. Im 19. Jahrhundert, für das Lanzinger sich auf einen relativ geschlossenen Aktenbestand im Diözesanarchiv Brixen mit 2150 Fällen stützen kann, zeigen sich Schwierigkeiten, um die ausgedehnten Ehehindernisse zu wissen. Der kirchliche Verfahrensweg war mit einem mehrstufigen Instanzenweg klar geregelt, sodass es geraume Zeit dauerte, bis ein Dispens erteilt wurde. Hinderlich dafür war das vorherige Zusammenleben der Partner, denn dispensiert werden sollten nur moralisch integre Paare. Lanzinger stellt dazu eine interessante These auf: "Für die Mitte der 1850er Jahre einsetzende Moralisierungswelle scheint es aufgrund der zeitlichen Koinzidenz plausibel, einen Konnex zu dem 1854 ausgesprochenen Dogma der 'unbefleckten Empfängnis' herzustellen." (221)
Ein weiteres Dispensproblem stellte sich im Fall von Schwägerschaft, etwa wenn ein Mann nach dem Tod seiner Frau dessen Schwester heiraten wollte. Während des Pontifikats von Gregor XVI. (1831-1846) wurden die meisten Ansuchen mit dieser Begründung abgelehnt. Die Quellen zeigen jedoch, dass mit einer solchen Konstellation sowohl den Bedürfnissen einer Familie mit Kindern als auch der Sicherung des Vermögens Rechnung getragen werden konnte.
Ein letztes Problemfeld eröffnet Lanzinger mit den "konsanguinen Ehen", also denen zwischen Cousin und Cousine. Sie kann zeigen, dass ökonomische Erklärungen auf dem Hintergrund des lokalen Erbrechts zwar eine wichtige Rolle spielen, aber solche Heiratsprojekte auch "eine Folge verdichteter Verwandtschaftsnetze insbesondere der über Vermögen und Status definierten lokalen und regionalen Eliten" (340) sind, wie sie am Beispiel der Vorarlberger Familie Metzler darlegen kann. Joseph Feßler, später als Generalsekretär einer der wichtigen Protagonisten des Ersten Vatikanischen Konzils, versuchte als Generalvikar in Vorarlberg diese Verwandtenehen nach Möglichkeit zu verhindern. Als in Österreich 1868 die Notzivilehe eingeführt wurde, bekamen heiratswillige Paare einen Ausweg, den sie gelegentlich durch Andeutungen und Drohungen ausnutzten, um eine kirchliche Ehedispens zu erhalten.
Die Studie von Margareth Lanzinger zeigt in mikrohistorischem Zugriff die Schwierigkeiten auf, die sich kirchlichen Ehehindernissen in geografisch kleinräumigen Verhältnissen stellten. Sie öffnet ein ganzes Panorama von theologischen, medizinischen, moralischen und wirtschaftlichen Diskursen, die sich den wechselnden Beziehungen von Kirche und Staat stellen mussten. Lanzingers Arbeit fügt somit einen wichtigen Baustein in die internationale Familienforschung ein. Die Autorin kann vor allem aufzeigen, dass die im katholischen Bereich über 700 Jahre geltenden Ehevorschriften nicht nur in Konkurrenz zu einer leichteren evangelischen Praxis standen, sondern im 18. Jahrhundert auch gegen staatliche Erleichterungen ihre moralische Berechtigung behaupten mussten. Zudem macht sie klar, dass Dispense in allen Bevölkerungsschichten erbeten und erkämpft werden mussten und keineswegs nur ein Privileg des Adels darstellten. Lanzinger ergänzt und korrigiert damit die Forschung in wesentlichen Punkten.
Margareth Lanzinger: Verwaltete Verwandtschaft. Eheverbote, kirchliche und staatliche Dispenspraxis im 18. und 19. Jahrhundert, Wien: Böhlau 2015, 405 S., ISBN 978-3-205-78752-5, EUR 54,90
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