Die Bonner Habilitationsschrift gehört im weitesten Sinne zum Komplex einer neuen, kulturell ausgerichteten Diplomatiegeschichte und ist einem bislang eher vernachlässigten Thema von fundamentaler Bedeutung gewidmet: Wie stellt sich das Reich, moderner ausgedrückt: Deutschland mit seinen Menschen, Institutionen, Traditionen, kollektiven Verhaltensweisen und Mentalitäten aus der Sicht der Kurie im Zeitalter der Glaubensspaltung und einsetzenden Konfessionalisierung dar? Finden in dieser Optik Veränderungen oder gar Brüche statt? Und wie sind diese Entwicklungslinien der Perzeption zu erklären, konkret: welche persönlichen und überindividuellen Prägefaktoren kommen bei diesen Vorgängen ins Spiel, welche sprachlichen und kulturellen Übertragungs-, Anpassungs- und Verformungsprozesse sind in Rechnung zu stellen? Dabei stützt sich die monumentale Studie vor allem auf die Berichterstattung der päpstlichen Diplomatie, wie sie in den Sammlungen der Nuntiaturberichte seit Jahrzehnten mehr oder weniger ungenutzt für weiterführende Fragestellungen dieser Art vorliegt, bezieht aber darüber hinaus eine Fülle weiterer Korrespondenzen und Memoranden mit ein. Über die zentrale Fokussierung hinaus weitet sich das Blickfeld zudem immer wieder durch vergleichende Seitenblicke, etwa zu den venezianischen Botschaftern oder zum Bild der Eidgenossenschaft in den Rapporten der Luzerner Nuntiatur, und durch Einbeziehung späterer Quellen räumlich und zeitlich aus.
Bei der Suche nach Antworten auf das weitgesteckte Fragenfeld streut der Verfasser erfreulich breit: von den Bildungsvoraussetzungen der Nuntien über ihre (für die Aufgaben in Deutschland chronisch defizitären) Sprachkenntnisse, ihre Vernetzung auf dem diplomatischen Außenposten, ihre dortigen Ansprechpartner bis zu den Interessenkonstellationen der großen Politik und dem Agieren und Intervenieren auf Reichstagen. Aus all diesen Versatzstücken kristallisieren sich Bildmuster und Musterbilder heraus, die sich zu größeren Tableaus der Wahrnehmung zusammenfügen, wie sie etwa in den Hauptinstruktionen an die neuen Botschafter als Orientierungs-Vademecum weitergereicht werden. Diplomaten schulen Diplomaten, die ihren neuen Wirkungsraum dementsprechend mit einem vermeintlichen Vorwissen sehen, das ihre Anschauung profunde prägt. Ist in einem derartig zirkelhaften Prozedere Abweichung von tradierten Modellen und damit Wahrnehmung des Fremden in seiner Andersartigkeit überhaupt möglich? Nein und ja - so ließen sich die Ergebnisse der Untersuchung am knappsten zusammenfassen.
Grundsätzlich steht das Deutschland-Bild der Kurie im Zeichen der humanistischen Grundunterscheidung von italienischer Zivilisation und deutscher Barbaries. Der germanische Barbar ist ein von ungezügelten Trieben gesteuertes Instinktwesen: trunksüchtig, von parvenühaftem Ehrgeiz gebläht, irrational, doch durch sein dünkelhaftes Streben nach Macht und Ruhm zugleich leicht durchschaubar und nicht weniger mühelos lenkbar, durch Bestechung vor allem. Diese Stereotypenbildung steht Erkenntnis leitend im diplomatischen Raum und prägt die transnationale Auseinandersetzung zutiefst: Sie verhindert im Grunde jede Kommunikation, die über die Bestätigung vorgefasster Urteile hinausgeht. Doch die Krise, die durch die Absage Luthers an das Papsttum verursacht und durch die nachfolgenden Entwicklungen der Reformation in Wittenberg, Zürich und Genf vertieft wird, zwingt die römische Seite dazu, ihre traditionellen Wahrnehmungsmuster zu überprüfen. Damit wird ein Prozess der Differenzierung eingeleitet, der im Pontifikat Gregors XIII. (1572-1585) mit seiner auffälligen "deutschlandpolitischen" Akzentsetzung seinen Höhepunkt findet. Die in dieser Zeit gewonnenen Einsichten werden danach nahtlos in die Diplomatie von Seicento-Päpsten wie Gregor XV. eingehen.
Diese summarisch zusammengefassten Hauptergebnisse werden ebenso wie zahlreiche Bestandsaufnahmen und Diagnosen im Einzelnen überzeugend begründet und dargelegt. Insgesamt verdient die vorliegende Studie deshalb hohes Lob: Sie zeigt exemplarisch, wie man Modethemen ganz und gar unmodisch, nämlich quellennah, erfreulich kleinschrittig und dicht gefügt in der Argumentation, ausgewogen in der Auswertung und sprachlich transparent darstellt. Einige kritische Bemerkungen drängen sich gleichwohl auf. Die wichtigste lautet: Wahrnehmung geschieht wechselseitig und erklärt sich erst durch diese Gegenbildlichkeit vollständig. Ein Beispiel: Die Begegnung zwischen dem päpstlichen Nuntius Pietro Paolo Vergerio und Luther im November 1535 liegt nicht nur in der hier herangezogenen Korrespondenz des römischen Diplomaten, sondern auch in der Version Luthers vor, und dieser Vergleich zeigt noch sehr viel eindrucksvoller, wie jeder Ansatz einer auch nur elementaren Verständigung an der kulturellen Vorprägung der Protagonisten scheitert. Zudem ist die Wahrnehmung Luthers als Barbar und Ketzer als Matrix der kurialen Deutschlandbilder zu betrachten. Dieses Lutherbild wird jedoch schon 1521, im Umfeld des Reichstags von Worms, vom päpstlichen Diplomaten Girolamo Aleandro ein für alle Mal fertig gezeichnet. Beide Bilder, das des Häretikers und des Reiches, liegen mit ihren Konturen also schon vor 1523 fest. Leise Zweifel scheinen auch hinsichtlich der Fortdauer der differenzierten Deutschland-Wahrnehmung im 17. Jahrhundert begründet. Unter Urban VIII. und Innozenz X. stellt sich dieses Bild jedenfalls erneut sehr verengt und das Fundament an Informationen, auf dem es aufbaut, brüchig dar.
Diese Anmerkungen schmälern den Wert des vorliegenden Standardwerks nicht. Künftige Untersuchungen zu ähnlichen Themenkomplexen können sich mit Gewinn an ihm orientieren.
Guido Braun: Imagines imperii. Die Wahrnehmung des Reiches und der Deutschen durch die römische Kurie im Reformationsjahrhundert (1523-1585) (= Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte; 37), Münster: Aschendorff 2014, 840 S., ISBN 978-3-402-14765-8, EUR 89,00
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