sehepunkte 16 (2016), Nr. 3

David Martín Marcos / José María Iñurritegui / Pedro Cardim (eds.): Repensar a identidade

Die spanische und die portugiesische Geschichtsschreibung weisen vor allem eine Gemeinsamkeit auf: das weitgehende Nichtbeachten der jeweils anderen Historiografie sowie der Parallelen und wechselseitigen Einflüsse in der Entwicklung beider Länder. Dabei zeigen sich diese schon bei oberflächlicher Betrachtung der großen Linien: von der römischen Herrschaft über die Reconquista, die Expansion und die frühneuzeitlichen Weltreiche, die Parallelen in den Reformen des 18. Jahrhunderts, der Kampf gegen Napoleon, die Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen im 19. Jahrhundert bis hin zu den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, die fast zum selben Zeitpunkt endeten.

Die Personalunion zwischen 1580 und 1640 ist dabei die einzige Phase, die in beiden Ländern große historiografische Aufmerksamkeit erfährt. Entgegen der traditionellen nationalgeschichtlichen Wahrnehmung des Themas betont die jüngere Forschung die engen personellen und kulturellen Verflechtungen zu dieser Zeit, etwa die Verbindungen der spanischen und portugiesischen Adelshäuser, personelle Überschneidungen in Politik und Wirtschaft, die wechselseitigen kulturellen Einflüsse oder auch die Verbindungen der Universitäten von Coimbra und Salamanca. [1] Dabei fällt auf, dass keine dieser Gemeinsamkeiten wirklich auf den Zeitraum der Personalunion beschränkt ist.

Der vorliegende Band weitet folgerichtig den Betrachtungszeitraum bis ins frühe 19. Jahrhundert aus, wobei im Kern die Frage nach dem iberischen "Sonderweg" gestellt wird, das heißt nach der vor allem seit dem 18. Jahrhundert immer wieder postulierten, im europäischen Vergleich verlangsamten Modernisierung. Die Herausgeber verweisen zu Recht darauf, dass die historische Literatur zur "Krise des europäischen Bewusstseins", die traditionell in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts angesiedelt wird, die iberischen Mächte - ungeachtet ihrer politischen und ökonomischen Bedeutung zu jener Zeit - völlig außer Acht lässt. Die Frage danach, wie sich auf dem Weg zweier Weltreiche zu solch einer Marginalisierung die iberischen Identitäten herausbildeten, stellt den gemeinsamen Nenner der Aufsätze in diesem Sammelband dar.

Sie stellte sich in den Teilreichen der spanischen Monarchie verstärkt seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als sie aus dem Kontext des Heiligen Römischen Reiches gelöst wurden und der Hegemonialanspruch der in Kastilien residierenden spanischen Habsburger, der sich nun nicht mehr auf einen katholisch begründeten Universalismus stützen konnte, immer weniger anerkannt wurde. Der vorliegende Band gibt in diesem Zusammenhang interessante Einblicke in die Versuche verschiedener Territorien der Iberischen Halbinsel, durch Betonung der jeweils eigenen Geschichte die eigenen Sonderrechte ("fueros") gegen vermeintliche kastilische Uniformierungsversuche zu legitimieren (siehe etwa den Aufsatz von Jon Arrieta und João Salgado de Araújo). Diese Bestrebungen erreichten besondere Intensität in den 1640er-Jahren, als sich sowohl Portugal als auch Katalonien gegen die kastilische Krone erhoben.

So sehr sich die portugiesische Identität insbesondere während der Restaurationszeit vor allem in Abgrenzung gegenüber Kastilien ausbildete (siehe dazu die Beiträge von Pedro Cardim und Antonio Terrasa Lozano), so sind doch die Gemeinsamkeiten nicht zu übersehen. Der Umgang mit der Naturalisierung der im Zuge der Expansion wachsenden Anzahl von Ausländern etwa war in beiden Ländern vergleichbar in dem Maße, dass man in Portugal auf die entsprechenden spanischen Gesetze zurückgreifen konnte. Zwar stellt Tamar Herzog in ihrem Beitrag die berechtigte Frage, ob diese auf das ius commune zurückgehende Rechtsordnung nicht ebenso auch in anderen Teilen Europas Anwendung hätte finden können, doch verdeutlicht der Beitrag von Ângela Barreto Xavier, dass in der hier zugrunde liegenden Frage der Identitätsbildung die verstärkte Konfrontation mit dem "Anderen" sowohl auf der Iberischen Halbinsel selbst, als auch in den überseeischen Territorien zur Herausbildung einer jeweils "portugiesischen" beziehungsweise "spanischen" Identität beitrug. Zudem entwickelte sich im Lauf der Zeit die entsprechende Gesetzgebung in beiden Ländern parallel vom Lokalen hin zum "Nationalen" und wurde dabei zunehmend zu einem Herrschaftsinstrument der Krone.

Der Kampf um die portugiesische Unabhängigkeit endete im Jahr 1668 nach jahrzehntelangem Kampf. In Portugal stand die neue Dynastie der Avis vor der Aufgabe, die innere Spaltung zu überwinden - denn im Gegensatz zum Topos der nationalen Geschichtsschreibung hatte ein großer Teil der Bevölkerung die Union mit Spanien durchaus befürwortet -, sowie die eigene Herrschaft nach innen und nach außen zu legitimieren. Die Abgrenzung gegenüber Kastilien behielt dabei ihre identitätsstiftende Bedeutung bis ins 18. Jahrhundert hinein bei und begünstigte die Entwicklung hin zum nationalstaatlichen Diskurs (vergleiche die Beträge von David Martín Marcos sowie Terrasa Lozano). Spanien hingegen, nach wie vor eine "composite monarchy", tat sich mit dieser Entwicklung schwer (siehe den Aufsatz von José María Iñurritegui Rodríguez). [2]

Die bereits angesprochene Legitimationskrise der Herrschaft der spanischen Habsburger verschärfte sich Ende des 17. Jahrhunderts durch eben diesen aufkommenden nationalstaatlichen Diskurs sowie die schwache Regierung Karls II. Der Konflikt zwischen dem Panhispanismus der Habsburger und dem Beharren der einzelnen Territorien auf ihren Sonderrechten schlug sich einmal mehr in Diskussionen um das Wesen der Herrschaft nieder. Dem zunehmend absoluten Herrschaftsanspruch der Krone stand die naturrechtlich begründete Verteidigung der grundsätzlich von der Volkssouveränität ausgehenden kontraktualistischen Monarchie gegenüber (vergleiche den Aufsatz von Héloïse Hermant, sowie den von Maria Fernanda Bicalho zu den Auswirkungen dieser Debatten im kolonialen Kontext). Für die weitere Geschichte der iberischen Reiche ist dabei von entscheidender Bedeutung, dass der Naturrechtsgedanke, wohl aufgrund des überragenden Einflusses der Schule von Salamanca, tief katholisch geprägt war.

Die säkularisierenden Tendenzen, die sich seit Ende des 17. Jahrhunderts in Europa Bahn brachen, sowie die Debatten um Staatsräson und Souveränität stellten die Grundlagen der "composite monarchy" in Frage. Aus dieser Perspektive erscheint die vorsichtige Aufnahme des modernen Gedankengutes auf der Iberischen Halbinsel, wie sie Pablo Fernández Albaladejo sowie José María Portillo Valdés und Julen Viejo Yharrassarry in ihren Aufsätzen beschreiben, nicht wie eine durch Dogmen und Zensur bedingte, unzureichende Rezeption, sondern wie eine bewusste Entscheidung für eine katholisch geprägte Identität, die zur Wahrung des inneren Zusammenhaltes vor allem des habsburgischen Reiches unabdingbar war. Insgesamt liefert der vorliegende Band vor allem durch seine länderübergreifende Sichtweise und die Ausweitung des chronologischen Rahmens über traditionelle Epochengrenzen hinaus einen wertvollen Beitrag zur Erforschung der iberischen Geschichte.


Anmerkungen:

[1] Vergleiche stellvertretend Fernando Bouza Álvarez: Portugal no tempo dos Filipes. Política, Cultura, Representações (1580-1668), Lissabon 2000; sowie die Sammelbände Pedro Cardim / Leonor Freire Costa / Mafalda Soares da Cunha (eds.): Portugal na Monarquia Hispânica: dinâmicas de integração e conflito, Lissabon 2013; und Carlos Martínez Shaw / José Antonio Martínez Torres (eds.): España y Portugal en el mundo (1581-1668), Madrid 2014.

[2] Zum Begriff der "composite monarchy" siehe den Aufsatz von John H. Elliott: "A Europe of Composite Monarchies", in: Past & Present 137 (1992), 48-71; sowie den Sammelband Pedro Cardim / Tamar Herzog / José Javier Ruiz Ibáñez / Gaetano Sabatini (eds.): Polycentric Monarchies. How did Early Modern Spain and Portugal Achieve and Maintain a Global Hegemony?, Brighton 2012, an dem mehrere Autoren des vorliegenden Bandes beteiligt sind.

Rezension über:

David Martín Marcos / José María Iñurritegui / Pedro Cardim (eds.): Repensar a identidade. O mundo ibérico nas margens da crise da consciência europeia (= Estudos & Documentos; 23), Lissabon: Centro d'História d'Aquém e d'Além-Mar 2015, 342 S., ISBN 978-989-8492-28-9

Rezension von:
Alexandra Gittermann
Hamburg
Empfohlene Zitierweise:
Alexandra Gittermann: Rezension von: David Martín Marcos / José María Iñurritegui / Pedro Cardim (eds.): Repensar a identidade. O mundo ibérico nas margens da crise da consciência europeia, Lissabon: Centro d'História d'Aquém e d'Além-Mar 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 3 [15.03.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/03/28518.html


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