Kann Israels Geschichte unter Ausschluss des Konflikts um das Territorium Eretz Israel/Palästina überzeugend erzählt werden? Michael Brenner macht gleich zu Beginn seines neuen Buches die Grenzen seines Ansatzes deutlich: "Dieses Buch beschäftigt sich nicht mit der äußeren Bedrohung Israels und all seinen inneren Konflikten, auch nicht mit dem arabischen Bevölkerungsteil Israels." (22) Ziel sei vielmehr, "die Debatten über den Charakter des ersten jüdischen Staates in der Moderne" zu verfolgen und dabei "den Fragen nachzugehen, was dieser sein wollte, wozu er wurde und wie er von der Welt wahrgenommen wird" (9). Dabei geht es vor allem um die Frage der Einzigartigkeit der jüdischen Geschichte, mithin des jüdischen Staates im Zuge eines zionistischen Jahrhunderts.
Brenners These lautet: "Obwohl Israels Vordenker und später Israels Politiker immer wieder den Weg in die Normalität einzuschlagen versuchten und dem 'besonderen' Schicksal der jüdischen Geschichte entfliehen wollten, konnten sie sich nicht von dem Bann lösen, der die Geschichte der Juden über Jahrtausende begleitet hat. Zu tief verankert waren die jahrhundertealten Vorstellungen von den Juden als den 'Anderen', um sie in wenigen Jahrzehnten spurlos verschwinden zu lassen. Zu sehr verinnerlicht wurden die Sichtweisen von außen, wie auch die eigenen Erfahrungen als die 'ewigen Anderen'. Und zu ungewöhnlich waren die Umstände, die zur Gründung des Staates Israel führten: die Proklamation der Souveränität nach zwei Jahrtausenden Staatenlosigkeit und der unmittelbar vorausgegangene Genozid." (9)
Die Sondergeschichte der Juden als Grund für das Scheitern des Zionismus? Unter Ausschluss der Konfliktgeschichte eine schwer belegbare These. Tatsächlich wird ein beträchtlicher Teil "dem Traum" gewidmet, also der Idee von einem Staat für die Juden. Das 1. Kapitel "Am Scheideweg: 1897" stellt sehr ausführlich Vordenker des Zionismus rund um das Gründungsjahr der zionistische Bewegung vor, und zwar in Berlin, Wien, Basel, Wilna und Odessa. Das 2. Kapitel "Der Traum vom Siebenstundenland (1897-1917)" schildert zunächst die "Judenfrage" anhand eines akuten antisemitischen Falls in Kischinew, 1903 "Pogromland", und stellt dann in zwei weiteren Abschnitten die beiden zentralen Modelle ihrer zionistischen Lösung dar: "Altneuland" behandelt Herzls politischen Zionismus, "Hebräerland" Achad Ha'ams Kulturzionismus.
Im dritten Kapitel "Die nationale Heimstätte (1917-1947)" werden innerjüdische Debatten zu den diversen zionistischen Lösungsansätzen im vorstaatlichen Jishuv angeführt. Ausgehend von der Balfour-Deklaration mit dem britischen Versprechen einer jüdischen Heimstätte (1917) werden in vier Abschnitten - "Die Autonomielösung" , "Die Einstaatenlösung" , "Die Zweistaatenlösung" und "Die Fata-Morgana-Lösung" - die Frage um das Wesen bzw. um das konkrete Territorium diskutiert.
Soll diese Heimstätte in Form von einer Autonomie auch in fernen Ländern existieren, also außerhalb des Landes Israel? Oder sollte diese Form eines Staates für beide Völker Palästinas annehmen, wie es sich die Brit Shalom oder auch Vladimir Jabotinsky vorgestellt haben? Für den letzten soll dies allerdings ein Staat auf beiden Seiten des Jordans sein. Ein jüdischer Nationalstaat in Teilen Palästinas wäre dann die Zweistaatenlösung, die auch zunächst einmal im britischen Peel-Plan 1937, dann im UN-Teilungsplan 1947 formuliert wurde. Diese Option hat die regierende Arbeiterpartei im Jishuv auch unterstützt und für den jüdischen Part auch historisch umgesetzt.
Ein viertes Kapitel "Vom Traum zur Wirklichkeit (1947-1967)" befasst sich mit drei Debatten um das Wesen des zionistischen Projekts: "Ein Staat wie jeder andere oder ein Licht unter den Völkern?" thematisiert das Staatsverständnis; damit verbunden ist die Frage nach dem Staatsangehörigkeitsrecht: "Wer ist Jude im jüdischen Staat?". Dann behandelt "Ein neues Kanaan?" die in den 1950ern diskutierte Alternative zum zionistischen Modell eines jüdischen Staates für das jüdische Volk. Wie historisch bedeutsam diese nativistische Bewegung, die die völlige Lossagung des neuen Staates von der jüdischen Diaspora anstrebte, gerade nach der Shoah und im Zuge des großen Sieges des Zionismus 1948 war, bleibt dahin gestellt. Auch die sicherheitspolitischen Fragen der 1950er und 1960er - welche den neuen Staat, seine politische Ordnung und Kultur entscheidend geprägt haben und dazu auch zum Sinai-Krieg und zum Sechstagekrieg führten - bleiben hier unbeachtet. Dem Autor geht es vielmehr um die Vielfalt der jüdisch-zionistischen Ideengeschichte, wenig um das tatsächlich historisch Umgesetzte.
Dies lässt sich auch dem fünften Kapitel "Von der Wirklichkeit zum Traum (1967-1995)" entnehmen, das mit folgenden Untertiteln versehen ist: "Der siebte Tag", "Siedlerträume", "Friedensträume" und "Endzeiträume". Gewissermaßen dem linkszionistischen Diskurs verhaftet, konstatiert Brenner bezogen auf die drei ersten Abschnitte folgendes Bild des politischen Israels: "Der militärische Erfolg von 1967 und der politische Rechtsruck von 1977 brachten die Rückkehr der Utopie in die israelische Politik mit sich. Das rechte Lager träumte von der Etablierung eines Groß-Israels auf biblischer Grundlage, das linke Lager von einem neuen Nahen Osten mit Israel als zentralem Element." (192)
Dass das Siedlungsprojekt in den palästinensischen Gebieten nach 1967 bis heute nicht alleine ein Projekt des rechten Lagers ist, das Friedenswerk nicht nur das des linkszionistischen Friedenslagers, ist hier nicht vom Belang. Dem Autor geht es nicht um die historische Wirklichkeit, sondern vielmehr um die jüdisch-israelischen Kontroversen darüber. So fragt der Historiker hinsichtlich der Nachkriegsdebatte unter israelischen Intellektuellen: "Soll die Besatzung temporären Charakter in Hinblick auf Israels Sicherheitslage haben, oder soll Israel die neuen Gebiete aus religiös-ideologischen Gründen für sich beanspruchen? Die Antwort auf diese Frage ist Israel bis heute schuldig geblieben." (170)
Doch das politische Israel ist diese Frage schon lange nicht mehr schuldig. 2016 erst recht nicht. Es beantwortet sie deutlich mit einer Sicherheitspolitik der militärischen Kontrolle über das ganze Land einerseits und mit seiner Siedlungspolitik im Westjordanland andererseits. Dabei teilen beide zionistischen Lager das Verständnis, Eretz Israel - inklusive Judäa und Samaria - sei ein jüdisches Land und der jüdische Staat müsse mit allen Mitteln gesichert werden, auch um den Preis des zermürbenden Konflikts. Weil sowohl die Rechte als auch die Linke diese beiden Ziele verfolgen, hält die politisch untragbare und moralisch verwerfliche Okkupationsordnung beinah ein halbes Jahrhundert lang an.
Da Brenner aber auf diese Verhältnisse nicht eingeht, vielmehr beim ideologisierten Diskurs bleibt, bedient er auch eine zu diesem Diskurs gehörende Friedensideologie: "Auch wenn Israel Friedensverträge mit seinen Nachbarn Ägypten und Jordanien sowie mit den Palästinensern abgeschlossen hatte, wurde es von seinen arabischen Nachbarn doch nicht als integraler Bestandteil der Region wahrgenommen. Der Frieden blieb ein kalter Frieden, Israel blieb im Bewusstsein der arabischen Welt ein Fremdkörper im Nahen Osten. In den Augen eines Großteils der Welt blieb Israel, was es schon lange war: der neighborhood bully, ein Pariastaat." (187)
Das abschließende 6. Kapitel "Das Globale Israel" beschreibt jüngste Dynamiken im Zuge einer globalisierten Welt und damit eine krisenhafte jüdische Nationalstaatlichkeit. Der interessante Abschnitt: "Zwischen Israel und der Diaspora" skizziert die Migrationsgeschichte gen Palästina und dann wiederum aus Israel in die westlichen Metropolen, und breitet Debatten in Israel und unter jüdischen Intellektuellen zur jüdischen Diaspora in Zeiten eines unsicheren jüdischen Staates aus. Zu Wort kommen hier Philip Roth, George Steiner, Daniel und Jonathan Boyarin mit ihrer "alternativen Geschichte Israels"; Christopher Hitchens mit seinem Verständnis der "israelischen Juden [als] ein Teil der Diaspora"; Tony Judt und seine Ansicht von Israel als größte Gefahr für das jüdische Volk; "neue" israelische Historiker und Soziologen der 1980er Jahre und später wie Tom Segev und Benny Morris, Eva Illouz, Avraham Burg und Shlomo Sand.
Auch hier geht es um die Frage, was Israel, die jüdische Diaspora und das Verhältnis von beiden sein sollte, wenig darum, was diese eigentlich sind. "Das Neuland" beschreibt ein neues Gebilde in einem imaginären Land für die immer mehr vom realen Israel enttäuschten Israelis, "die neuen Israelis" - eben die Vielfalt der potentiellen Einwanderer aus der ganzen Welt.
"Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates" konstatiert ein kosmopolitisches Gebilde. Der Abschlussteil "Die zwei Gesichter Israels", das Zusammenleben von säkularem Tel Aviv und religiösem Jerusalem, untermauert dieses Verständnis. Israel sei trotz aller (hier gut versteckten) Konflikte ein buntes, pluralistisches, offenes, demokratisches und vor allem ein westliches Land. Der Orient ist hier kaum relevant, die viele jüdischen Geschichten und Stimmen, dazu die jüdische Diaspora sehr wohl. Im Spannungsfeld zwischen Traum und Wirklichkeit liegt der Schwerpunkt deutlich auf dem Traum. So wird etwa der Gründer des politischen Zionismus Theodor Herzl, der 1904 starb, mehr als 300 Mal erwähnt, die "Palästina-Frage", die "Palästinenser-Frage" oder die "Arabische-Frage" finden sich dagegen kein einziges Mal, dafür gibt es aber die "Israel-Frage" (22); auch das israelische Militär ist interessanterweise kaum ein Akteur trotz seiner Bedeutung für die israelische Wirklichkeit.
Die Stärke des Ansatzes liegt in der Ideengeschichte. Die zionistischen Vordenker werden in aller Ausführlichkeit darlegt; der Leser erhält so einen guten Einblick in den Zeitgeist rund um die Entstehung des Zionismus in Europa und um die Debatten über dessen Implementierung. Auch die Vielfalt an Stimmen jüdischer und israelischer Intellektueller zu brisanten Debatten rund um das Projekt Israel ist beachtlich.
Die Leitthese, Israels Sonderstelle entspringe aus der jüdischen Leidgeschichte, geht jedoch nicht wirklich auf. Denn die Frage der Normalisierung bzw. Einzigartigkeit des jüdischen Staates bedarf einer ernsten Auseinandersetzung mit dessen konkreter Geschichte, Politik, politischer Ordnung und Kultur. Da aber der Konflikt um das Land so verheerend für diese Geschichte ist, muss sich der Historiker auch damit befassen. Ansonsten bleibt es bei einer entpolitisierten bzw. enthistorisierten Geschichtsschreibung.
Michael Brenner: Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates von Theodor Herzl bis heute, München: C.H.Beck 2016, 288 S., 24 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-68822-5, EUR 24,95
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.