"Haben wir noch eine christliche Kirche oder eine linksradikale politische Gemeinschaft?" (126). Nicht alle austrittswilligen Gemeindemitglieder stellten solch drastische Fragen, doch in den bekenntnisfreudigen 1970er und 80er Jahren fremdelten viele evangelische Christen mit ihrer Kirche. Die große Präsenz von Theologen und kirchlichen Aktivisten in den Neuen Sozialen Bewegungen wurde ebenso als Symptom einer "Linkspolitisierung" der Kirche gewertet wie die als einseitig wahrgenommene Positionierung kirchlicher Amtsträger und Gremien zu gesellschaftlichen, ethischen und politischen Fragen der Zeit. Die damit einhergehenden innerkirchlichen Verwerfungen sind in jüngster Zeit verstärkt in den Fokus der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung gerückt, die eindrücklich aufgezeigt hat, wie eng der dynamische Wandel der Gesellschaft seit den 1960er Jahren mit dem des religiösen Feldes verschränkt war.
In dem von Forschergruppen [1] sowie kirchennahen Forschungseinrichtungen [2] dominierten Zweig der Zeitgeschichte stellen Studien wie die Michael Schürings eine Ausnahme dar. Als ausgewiesener Wissenschaftshistoriker geht er der Frage nach, warum sich die evangelische Kirche in den 70er und 80er Jahren überhaupt mit dem Thema Atomenergie befasste (287). Was als Ausgangsfrage zunächst etwas unambitioniert daherkommen mag, gewinnt dank des diskursanalytischen Ansatzes rasch an Profil. Schüring arrangiert seine kenntnisreiche und ausgesprochen gut lesbare Studie rund um die Hauptthese, dass die Debatte um die Nutzung von Atomenergie in Deutschland kulturell und religiös codiert war (8).
Basierend auf einem umfangreichen Quellenkorpus aus kirchlichen Archiven werden drei (freilich stark miteinander verwobene) Diskursfelder analysiert, beginnend mit den "weltanschaulichen Voraussetzungen". Seit Anfang der 70er Jahre wuchsen sowohl die Einsicht in die "Grenzen des Wachstums" als auch die Ängste vor einer naturausbeuterischen Herrschaft des Menschen mit unabsehbaren Folgen für die Umwelt. Insbesondere in den Debatten um die Gefahren der Atomenergie fanden sich Endzeitvisionen sowie Warnungen vor den Grenzen menschlicher Machbarkeit, mithin also "Elemente einer säkularen Apokalyptik und Prophetie" (17), in denen Schüring das entscheidende diskursive Band zwischen der Umweltbewegung und dem kirchlichen Milieu sieht. Überdehnt - daran lässt der Autor dank unzweideutiger Bewertungen keinen Zweifel - wurde es indes von solchen kirchlichen Atomkraftgegnern, die nicht nur zur menschlichen Demut ermahnten und eine Bewahrung der Schöpfung einforderten, sondern mit prophetischem Habitus und gesinnungsethischer Verve zur radikalen Umkehr aufriefen.
Da prophetisches Ethos stets zur Tat drängt, ist der Übergang zum zweiten, politischen Diskursfeld fließend. Der von Robert Jungk 1977 geprägte Begriff "Atomstaat" avancierte unter Kernkraftgegnern zur Chiffre für einen Systemkonflikt - auch und gerade für kirchliche Aktivisten. Im Bewusstsein eines schuldhaften Versagens der Kirche während der NS-Zeit fühlten sie sich in der Pflicht, zu bekennen und notfalls Widerstand zu leisten gegen einen technokratischen, quasi-totalitären und potentiell eliminatorischen Atomstaat. Bewusst nahmen Pastoren im Talar an Anti-Atomkraft-Demonstrationen teil, hielten auf Bauplätzen "Feldgottesdienste" ab und errichteten im Hüttendorf "Republik freies Wendland" eine kleine Kirche.
Bei aller Anerkennung einer seelsorglichen Verpflichtung gegenüber Demonstranten wurde in den Kirchenleitungen ein derartiger evangelischer Aktivismus - zumal in seiner geschichtspolitischen Selbstlegitimierung - zurückgewiesen. Über die tieferen Motive der Ablehnung, ob biographisch oder theologisch begründet, erfährt der Leser trotz zahlreicher, ausführlicher Zitate leider kaum etwas. Schüring zeichnet das Bild einer konfliktscheuen, inhaltlich unsicheren und vor allem konservativen Kirchenführung. Dass er fast ausnahmslos überzeugte Lutheraner zu Wort kommen lässt, denen jeder prophetische Habitus in politicis als klerikale Anmaßung erscheinen musste, thematisiert er nicht. Der Autor vergibt somit die Chance, die kirchliche "Zerreißprobe" unter innerkonfessionellen Vorzeichen zu analysieren und in eine lange Konfliktgeschichte einzuordnen, in der Anhänger der Zwei-Reiche-Lehre den zumeist barthianisch inspirierten Verfechtern eines politisch-prophetischen Mandats der Kirche unversöhnlich gegenüberstanden. Auch zwei hochinteressante kirchliche Lernprozesse werden eher in ihren Resultaten, weniger jedoch in ihrer Genese beschrieben: Zum einen wurden in der vielbeachteten Demokratiedenkschrift der EKD aus dem Jahr 1985 Anliegen der Umweltbewegung anerkannt und ihre Argumente aufgegriffen; zum anderen sprach sich nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl eine Mehrheit der Landeskirchen für einen Ausstieg aus der Atomenergie aus.
Die dritte Perspektive liefert schließlich weit mehr Einblicke in die zeitgenössischen Auseinandersetzungen, als die Überschrift "Die neue Protestkultur" suggeriert. Um die Debatte um das Für und Wider von Atomenergie weder der kühlen Wissenschaftsprosa von Experten noch der sentimentalen Lyrik umweltbewegter Christen zu überlassen, nutzte die Kirche ihre "hervorragende Infrastruktur von Bildungseinrichtungen" (181) dazu, Orte des Austauschs zu schaffen und mit eigenen Experten zur Versachlichung der Auseinandersetzungen beizutragen. Wie Schüring überzeugend darlegt, spielten hierbei zwei kirchliche "Institutionen" eine Schlüsselrolle, nämlich die evangelischen Akademien sowie die Umweltbeauftragen in den Landeskirchen und auf Ebene der EKD. Während die seit ihrer Gründung diskursiv ausgerichteten Akademien ideale Foren zur nachhaltigen Behandlung umweltpolitischer Themen sowie zum Austausch kontroverser Positionen boten, leisteten die bestens vernetzten Umweltbeauftragten emsige Informationsarbeit, und zwar sowohl innerhalb kirchlicher Teilöffentlichkeiten als auch - an der kurzen Leine ihrer Dienstherren - gegenüber Vertretern von Politik und Medien.
In der Bewertung des konkreten kirchlichen Anteils an der Anti-Atomkraft-Bewegung neigt Schüring nicht zu einer Überbewertung seines Untersuchungsgegenstands. Er sieht die Kirche nicht als Motor der Entwicklung, sondern - so seine überzeugende Einschätzung - als Resonanzraum: Die Kirche griff aktuelle Themen auf, sie rang um theologisch vertretbare Bewertungen und bot Akteuren völlig unterschiedlicher Herkunft eine Bühne. Als spezifisch evangelisch können sicherlich die immer wieder anklingende Heterogenität sowie die langwierigen innerkirchlichen Meinungsbildungsprozesse bewertet werden. Schürings kurzer Seitenblick auf die umweltpolitischen Aktivitäten im katholischen Raum offenbart jedoch weit mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Die konfessionsübergreifende Rezeption intellektueller Stichwortgeber wie Carl Amery, gemeinsame Initiativen evangelischer und katholischer Kirchenleitungen sowie die vielfach ökumenischen Initiativen vor Ort wie z.B. der "Kreuzweg für die Schöpfung" von Wackersdorf nach Gorleben zeigen, dass eine überkonfessionell-"christlich" fokussierte Diskursanalyse nicht nur reizvoll, sondern auch möglich gewesen wäre.
Gleichwohl: In einer noch zu schreibenden Protestgeschichte der Bundesrepublik sollte die religiöse Codierung des Atomenergie-Konfliktes ebenso berücksichtigt werden wie die vielfältige inhaltliche und institutionelle Anteilnahme der Kirche an der Anti-AKW-Bewegung. Dafür die in der "profanen" Zeitgeschichte noch immer unterentwickelten Sinne geschärft zu haben, ist das Verdienst der vorliegenden Studie.
Anmerkungen:
[1] Vgl. die DFG-Forschergruppen "Transformation der Religion in der Moderne" (www.fg-religion.de) sowie "Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989" (www.for1765.evtheol.uni-muenchen.de).
[2] Zu nennen sind die katholische Kommission für Zeitgeschichte sowie die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte.
Michael Schüring: "Bekennen gegen den Atomstaat". Die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und die Konflikte um die Atomenergie 1970-1990 (= Deutsches Museum. Abhandlungen und Berichte. Neue Folge; Bd. 31), Göttingen: Wallstein 2015, 317 S., ISBN 978-3-8353-1695-9, EUR 29,90
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