"Style moderne", "décadence", "goût essentiellement français" oder "Rococo": Kunstkritik und Kunstgeschichte haben verschiedene Bezeichnungen für die geschwungene Form gefunden, die Interieur, Malerei, Mode und Geschmack in Frankreich von der Régence-Zeit bis in die 1770er-Jahre prägte. Sie bezeichnen den "neuen Stil" des Dekors, der sich vom Klassizismus Ludwigs XIV. absetzte. Die Verwendung dieser Begriffe war und ist keineswegs wertfrei, unterliegen sie doch bis in die Gegenwart hinein einem stetigen Deutungswandel. Man prangert mit ihnen den Niedergang der "ernsten" Kunst an, verunglimpft das frivole Sujet oder rehabilitiert unter Berufung auf die Rocaille künstlerische Qualität und Virtuosität.
Die Rezeption des Rokoko beschäftigt die Forschung zunehmend. Eine beachtliche, längst überfällige Bilanz zieht nun der von Melissa Lee Hyde und Katie Scott herausgegebene Sammelband. Er positioniert sich zwischen zwei grundlegenden Publikationen: der Pionierarbeit "The Pursuit of Pleasure" (1976) von Carol Duncan und dem Katalog zur Ausstellung "The continuing curve 1730-2008", die das Cooper-Hewitt National Design Museum in New York 2008 präsentierte. Hinzuzufügen wären die ebenfalls von Hyde herausgegebenen Untersuchungen "Rethinking Boucher" und "Making up the Rococo" (beide 2006), Deborah Silvermans Arbeit über das Wiederaufleben des Rokoko im Art Nouveau (1987), "François Boucher: Hier et aujourd'hui" (2003) von Françoise Joulie und Jean-François Méjanès sowie der Katalog "Salvaging the past" (2013), der am Beispiel des Architekten und Sammlers George Hoentschel wichtige Grundlagenforschung zur Rokokorezeption in den Interieurs des Fin de Siècle leistet.
Eine Publikation mit dem Titel "Rococo Echo" geht Risiken ein. Denn sie evoziert ein Stil- oder Epochenkonstrukt, das bei näherem Hinsehen schnell ins Wanken gerät. Es handelt sich beim "Rokoko" keinesfalls um eine festgeschriebene Periode, Idee oder Kategorie. Dementsprechend begreifen Hyde und Scott das Rokoko nicht als Stil, sondern als kulturelle Ausdrucksform. Sie schaffen damit die methodische Voraussetzung für den zeitlichen und medialen Untersuchungsrahmen, in dem Korrelationen zwischen den unterschiedlichen Epochen der Rokokorezeption aufgezeigt werden sollen.
Auch wenn der Begriff des Rokoko im vorliegenden Band sehr weit gefasst ist und im letzten Teil der Publikation zunehmend diffus wird, bieten die sechzehn Beiträge eine differenzierte Darstellung zahlreicher Rezeptionsebenen. Sie behandeln in einer Zeitspanne, die vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht, die bildenden und die dekorativen Künste, Film und Fotografie, Sammeln und Geschmack, Kritik und Wissenschaft. Die Metapher des Echos, so hoffen die Herausgeberinnen, "will [...] invoke the delayed return, echoes re-echoed, scatterings and proliferations, incomplete or fragmented reproductions, and drifts and gaps of meaning" (4), die den Blick auf das Rokoko charakterisieren. Solche Brüche, divergierende Ideen und Rezeptionsweisen werden systematisch nachvollzogen: Der Band beginnt mit dem "Echo (past imperfect)" im 19. Jahrhundert, als der Begriff "Rokoko" definiert wurde. Erst dann wendet er sich dem "Rococo now (present)" und damit dem unmittelbaren zeitgenössischen Transfer der Rocaille im Europa und Südamerika des 18. Jahrhunderts zu. Daran knüpfen im letzten Kapitel "Narcissus (futur anterior)" Positionen aus dem 20. und 21. Jahrhundert an. Hyde und Scott konterkarieren mit der schlüssigen Strukturierung der Beiträge in drei dezidiert nicht chronologische Kapitel einen entwicklungsgeschichtlichen Ansatz, den die Forschung schon so oft forcierte.
Bereits im ersten Kapitel wird deutlich, wo "Rococo Echo" seinen Schwerpunkt setzt. Der Großteil der Beiträge ist diskursanalytisch angelegt und befasst sich mit einer Auswahl prominenter kunstkritischer und kunsthistorischer Abhandlungen aus Frankreich, dem deutschsprachigen Raum und England. Weniger bekannt ist der von Tom Stammers vorgestellte Sammler und Autor Louis du Molay-Bacon, der in der Programmschrift "Trouvailles et bibelots" (1880) die Restauration des Ancien Régime forderte. Im Zuge eines weitreichenden kulturellen Wandels, infolgedessen der Kunstwert am historischen Wert gemessen wurde, erlangte das Rokoko neues Ansehen. Es wurde zur Projektionsfläche: So etwa für die Ästhetik des historischen Artefakts, an dessen Konservierung und Restaurierung Alois Riegl interessiert war. Aber auch für den nationalen Impetus bei Cornelius Gurlitt und für die "Physiognomie des Französischen" bei den Brüdern Goncourt, du Molay-Bacon und Emily Dilke.
Die Positionen haben ein identitätsstiftendes Moment gemein, das Gauvin Alexander Bailey am Rokoko in der "Peripherie" verfolgt. Er öffnet den eurozentrischen Rahmen mit einem Blick auf Brasilien, wo das Rokokoornament in der sakralen Architektur als "modern" aufgenommen wurde. Es verkörperte die Loslösung vom kolonial konnotierten Barock und wurde zur Ausdrucksform einer aufgeklärten Bourgeoisie.
Nicht zuletzt bedingt durch die Stereotype des Frivolen, Dekorativen und Femininen, die bereits die Kritik des 18. Jahrhunderts prägten, wurde das Rokoko von den Queer- und Gender Studies aufgegriffen. Die Assoziation der Rocaille mit Weiblichkeit und einer nicht normativen Maskulinität ist eine wesentliche Konstante ihrer Rezeption, konstatiert Hyde (338). Arbeiten von Andy Warhol der 1950er-Jahre beispielsweise nutzen direkte Verweise auf das Rokoko als Strategie der Rebellion gegen die Binarität und Hierarchie der sozialen Geschlechterordnung - und zur Eigenvermarktung als kommerzieller Illustrator. Warhols mit süffisanten Wortspielen versehenen Lithografien "Love is a pink cake" zeigen historische Figuren wie Ludwig XV. und Madame de Pompadour in amourösen Szenen. Allison Unruh legt dar, dass Warhol unter anderem Rokokosujets zur Artikulation einer Queer-Identität adaptierte, die sich gegen die "Macho-Ästhetik" (277) des Kunstmarkts und bewusst an einen Kreis homosexueller Künstler und Artdirektors richtete. Postmoderne Auseinandersetzungen von Yinka Shonibare MBE und Sofia Coppola referieren ebenfalls Erotik, Feminismus, Fantasie sowie Mode und üben in der Aneignung des Rokoko Kolonialismus- und Obrigkeitskritik.
Wie die Herausgeberinnen selbst betonen, besteht zu diesem komplexen Thema weiterhin Forschungsbedarf. "Rococo Echo" versteht sich als Teil des Rezeptionsprozesses, der Raum für Ergänzungen und Verdichtung lässt. Der Band bietet eine umfassende Grundlage für weiter reichende Analysen, die vor allem auch den rezeptiven Umgang mit dem konkreten Objekt explizit zum Gegenstand machen sollten.
Melissa Lee Hyde / Katie Scott (eds.): Rococo echo. art, history and historiography from Cochin to Coppola (= Oxford University Studies in the Enlightenment), Oxford: Voltaire Foundation 2014, XI + 397 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-0-7294-1158-5, GBP 65,00
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