Der Band enthält sechs Beiträge einer Tagung, die im Juni 2013 an der Universität Durham stattgefunden hat, sowie fünf weitere Aufsätze, die auf Einladung der Herausgeber in Ergänzung zur Tagung entstanden sind. Wir bekommen einen guten und interessanten Einblick in ein Segment der in den letzten Jahren immer breiter werdenden Studien zur Rezeptionsgeschichte antiker Themen.
Genauer: Thorsten Fögen und Richard Warren stammen aus Institutionen, die in den Bereich der Klassischen Philologie beziehungsweise der Classics gehören und sprechen lieber von classical reception studies. Die beiden beziehen sich dabei vorrangig auf den von Lorna Hardwick und Christopher Stray herausgegebenen Companion of Classical Reception (8 f.) und geben zu erkennen, dass sie sich einer Auffassung verpflichtet fühlen, in welcher Rezeptionsgeschichte mit dem Epitheton klassisch versehen wird. Prominent zitiert werden auch der Berliner Sonderforschungsbereich Transformationen der Antike sowie Gilbert Highets The Classical Tradition. Greek and Roman Influences on Western Literature (9). An dieses Werk haben kürzlich Michael Silk, Ingo Gildenhard und Rosemary Barrow in ihrem Buch The Classical Tradition (2014) mit Nachdruck erinnert: Es geht ihnen um Wirkungsgeschichte der Antike, als gebe es eine Tradition bis in die Gegenwart, wobei in diesem postulierten Kontinuum, doch gilt: "Every age finds what it wants in the classics." Diese Worte Highets zitieren denn Thorsten Fögen und Richard Warren auch am Schluss ihrer Einleitung zum vorliegenden Band (13).
Zwei Schwierigkeiten ergeben sich durch einen solchen Ansatz. Zum einen haben die modernen Nationalismen zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg wenig bis gar nichts mit der Antike gemeinsam. Zum andern lassen sie sich auch kaum besser verstehen, wenn wir sie, wie es die Herausgeber vorschlagen, ausgerechnet durch das - doch eher verzerrende - "Prisma" der griechisch-römischen Antike betrachten (1). Immerhin: Gewiss ist es so, dass damals, so wie es Anthony D. Smith (1939-2016) in seinem Übersichtsbeitrag ausführt, Antikebezüge präsent gewesen sind und durchaus ihren Einfluss ausgeübt haben. Hier bietet uns der vorliegende Band mit seinen Fallstudien Interessantes.
Doch braucht es wirklich die Vorstellung eines festen Zusammenhanges zwischen Antike und Nationalismus im - langem - 19. Jahrhundert? Ist es richtig anzunehmen, bestimmte Bezugnahmen auf die Antike zu Beginn der Epoche seien auch in späteren Phasen im Kern gleich geblieben? Nehmen wir das Beispiel des zweimal kurz behandelten Johann Joachim Winckelmann! Anthony D. Smith wie auch Athena S. Leoussi sehen in Winckelmanns Neoklassizismus, seinem Neuhumanismus, wie man dann im Laufe des 19. Jahrhunderts - bereits kritisch (!) auf ihn zurückblickend - gesagt hat, und in seiner Idealisierung griechischer Statuen als Inbegriff menschlicher Schönheit und Vollkommenheit ein Element, das für den modernen Nationalismus und dessen Repräsentationen wichtig gewesen sei. Irgendwie stimmt es schon ein wenig, und doch ist es schief. Freiheit und Freundschaft zwischen den Menschen waren Winckelmann gewiss wichtiger als Untertanenmentalität, Ausbildung tüchtiger Soldaten mit gesunden Körpern und aggressives nationales Ausgreifen. Auch Goethe und Humboldt, die von Winckelmann begeistert waren, sind zuweilen in den Dienst des Nationalismus gestellt worden, aber auch ihre Antikebegeisterung kann nicht mit Nationalismus in eins gesetzt werden. 1805 prägte Goethe die Formel Winckelmann und sein Jahrhundert. Doch 1890 gab Kaiser Wilhelm II. zum Entsetzen der Antikefreunde zu erkennen, dass er keine kleinen Griechen und Römer mehr erzogen haben wollte. Doch die Dinge sind noch komplizierter. Nationalistische Universitätsprofessoren sowie die für die Altertumswissenschaft so wichtige nationale Einrichtung des Deutschen Archäologischen Instituts hatten die Winckelmann- und Griechenverehrung institutionalisiert. Sie dienten nun auch der zur "Eroberungswissenschaft" gewordenen Archäologie mit ihren Großgrabungen. Archäologie und das Streben nach nationaler Dominanz sind auch in Großbritannien oder Frankreich Hand in Hand gegangen, obschon man auch gerne vom friedlichen Wettbewerb der Nationen gesprochen hat. Gewiss werden solche Dinge, zu denen auch zahlreiche Artikel des rezeptions- und wissenschaftsgeschichtlichen Teils des Neuen Pauly zitiert werden könnten (im vorliegenden Band geschieht es nie), auch in Weimar nächstes Jahr an einer Tagung zu Winckelmann um 1900 diskutiert werden!
Die Stärke des Bandes liegt zweifellos, wie es sein Untertitel sagt, in den Beiträgen zu Einzelthemen. Da findet sich auch manche Überraschung und immer wieder Neues, wenn auch nicht unbedingt historisch Repräsentatives. Wer weiß denn das: Dass Napoleon, als er die Briten um Exil ersuchen musste und dann nach St. Helena verbannt wurde, sich mit dem Athener Themistokles verglichen hat, der zum Molosserkönig Admet geflohen ist und dass es dazu unter anderem ein in Gerhard Schiffs Katalog der Werke des wild Swiss Johann Heinrich Füssli nicht verzeichnetes Bild mit einem heute offenbar unbekannten Aufenthaltsort gibt, das offenbar erst wieder an einer Auktion von Sotheby's aufgetaucht ist und zu dem es bisher nur einen Artikel des Schiff-Schülers Joseph Ruzicka gibt? Tim Rood stellt dar, wie die Vorgänge damals in Frankreich und Großbritannien wahrgenommen worden sind. Aber: Kennen wir Napoleon nicht eher als Eroberer Ägyptens und sehen Bilder der Schlacht vor den Pyramiden vor uns? War es nicht wichtiger, dass Napoleon am römischen Kaisertum angeknüpft hat; dass er ein Antikenräuber großen Stils war; dass die Ausgrabungen in Rom damals einsetzten (man denke an Ronald Ridleys The Eagle and the Spade) oder er als Alpenüberquerer, zweiter Hannibal (und Karl der Große), oder thronender Jupiter dargestellt wurde? Napoleon III. (zu ihm Edmund Richardson) benutzte die Antike mindestens so meisterhaft; kein Wunder, soll ihm doch seine Mutter geraten haben, immer mit der Geschichte zu argumentieren: Alle, so habe sie gesagt, würden an sie glauben, aber niemand kenne sie. Dann Bilder, welche das Gefühl nationaler Identität stärken konnten, so Edward Poynters standhafter Soldat in Pompeji (Faithfull to Death - 1865), analysiert von Rosemary Barrow, oder die von Richard Hingley behandelten Darstellungen des Baus römischer Befestigungen sowie Henry Courteney Sealous' Boadicea für das neue Parlamentsgebäude in Westminster (dazu Richard Warren). Alle diese Beiträge liest man gerne, bei der Betrachtung der Abbildungen muss man sich freilich mit einer eher bescheidenen Druckqualität zufrieden geben. Die Germania des Tacitus ist einer von freilich vielen wichtigen und einflussreichen Texten - zu ihm Christopher B. Krebs. Er spielt natürlich auch für das bekannte Arminiusdenkmal eine Rolle (dazu Michael Sommer). Nicht ganz Europa ist behandelt. Der Schwerpunkt liegt in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Je ein Beitrag gilt Themen in Irland (Laurie O'Higgins - Übersetzungen) und Böhmen (Richard Warren - Arminius in der tschechischen Kunst, nämlich bei Joseph Bergler und Alphonse Mucha). Wer übersichtsmäßig erste Informationen zu allen Nationalstaaten haben möchte, sei auf die Länderartikel im rezeptions- und wissenschaftsgeschichtlichen Teil des Neuen Pauly verwiesen.
Thorsten Fögen / Richard Warren (eds.): Graeco-Roman Antiquity and the Idea of Nationalism in the 19th Century. Case Studies, Berlin: De Gruyter 2016, VII + 305 S., ISBN 978-3-11-047178-6, EUR 109,95
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